Noch vor wenigen Wochen war man sich in der chilenischen Regierung weitgehend einig. Eine „Oase der Stabilität“ sei das Land. Magnet für Investoren und Hort der Vernunft auf einem Kontinent, der in jüngster Zeit wieder etwas auf dem Unruhebarometer zulegte.
Heute, 20 Tote und unzählige Verletzte später, hat sich die Rhetorik grundlegend gewandelt. Man sei im „Krieg“, verkündete Präsident Sebastián Piñera vor laufender Kamera.
Immer wieder entladen sich die Spannungen zwischen Regierung und Demonstranten in gewalttätigen Ausschreitungen. Schützenpanzer und Soldaten prägen das Stadtbild, nachts herrscht Ausgangssperre, die immer wieder von Schüssen und Explosionen gestört wird.
Junge Mittelschicht sorgt sich um die Zukunft
Eine erstaunliche Eskalation der Lage, die mit einer Demonstration gegen die Erhöhung des U-Bahn-Fahrpreises am 6. Oktober ihren Anfang nahm. Schnell lief die Lage aus dem Ruder, und nach der Ausrufung des Ausnahmezustands in der Hauptstadt und den größten Städten des Landes verkündete General Javier Iturriaga am 19. Oktober die nächtliche Ausgangssperre.
Binnen zweier Wochen war eines der stabilsten Länder des Kontinents in Chaos versunken. „Linke, gut organisierte“ Banden macht die Regierung öffentlich für den Zusammenbruch der Ordnung verantwortlich.
Jorge Marchant hält das für lächerlich: „Piñera ist Angehöriger einer kleinen Clique aus untereinander verschwägerten ultrareichen Familien. Seit dem Ende der Ära Pinochet tun diese Leute alles, um die herrschende Oligarchie in Macht und märchenhaftem Wohlstand zu halten. Von der guten Wirtschaftslage der letzten Jahre ist das meiste bei diesen Leuten hängengeblieben.“
Der Journalist und Politikwissenschaftler schreibt und forscht seit Jahren zu den gesellschaftlichen Vorgängen in Chile. „Sicherlich hat die radikale Linke diesen Protest gekapert, die alten kommunistischen Strukturen aus der Allendezeit funktionieren in weiten Teilen des Bildungssystems wieder hervorragend, aber das macht das Grundanliegen vieler Demonstranten nicht weniger legitim.In unserer zutiefst klassistischen Gesellschaft ist wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg schwierig, die Teilhabe an Bildung und Wirtschaftswachstum ist mit hohen finanziellen Barrieren verknüpft. Das macht die Leute zornig.“
Sein Cousin Mario Marchant, Anwalt und Steuerberater, widerspricht energisch: „Das chilenische Volk hat den sozialen Umverteilungsphantasien von Expräsidentin Michelle Bachelet bei der vergangenen Wahl eine klare Abfuhr erteilt. Die Mehrheit der Chilenen arbeitet hart, um sich den Aufstieg zu verdienen, von dem die Randalierer glauben, daß er ihnen zusteht. Was wir hier erleben, ist ein Umsturzversuch der radikalen Linken. Wenn wir die Konsequenzen eines solchen sehen wollen, müssen wir nur nach Venezuela schauen.“
Ein feiner, aber trennender Riß verläuft zwischen den beiden Cousins und trennt im ganzen Land Familienmitglieder und Freunde. Das war nicht immer so. Während und nach der Ära Pinochet gehörte die eigene soziale Umgebung meist geschlossen zum Anti- oder Pro-Pinochetlager. In der stark fragmentierten Gesellschaft Chiles verliefen soziale und politische Bruchlinien selten innerhalb der stark homogenen Schichten und Klassen. Heute ist das anders.
Viele in der chilenischen Gesellschaft haben für die Anliegen der Demonstranten, die mittlerweile weit über die Rücknahme der Fahrpreiserhöhung hinausgehen und sich grundsätzlich mit dem herrschenden Wirtschaftsmodell befassen, Verständnis. „Die Proteste sind die Antwort des Volkes auf jahrzehnte neoliberaler Deregulierung, die dazu geführt haben, daß weite Teile des Wirtschaftslebens von Kartellen beherrscht werden. Den überhöhten Preis für Absprachen bei Qualität und Preis vor allem, aber nicht nur, im Lebensmittelbereich zahlt die von permanentem Abstieg bedrohte junge Mittelschicht. Junge Menschen mit abgeschlossenem Studium, die sich statt mit dem eigenen Aufstieg immer nur mit der Angst vor dem eigenen Abstieg beschäftigen müssen“, führt Jorge Marchant weiter aus.
Das sei kein Grund „für mittlerweile über 20 Tote, von denen viele lebendig in ihren geplünderten und angezündeten Geschäften verbrannt“ seien, wirft sein Cousin ein. Dabei verlaufen eigentlich viele Proteste friedlich. In den chilenischen Medien ist davon jedoch eher wenig zu sehen. Dort konzentriert man sich auf die tatsächlich außergewöhnlich gewalttätig verlaufenden Plünderungen.
In Südamerika hat die radikale Linke in der Vergangenheit selten den Schulterschluß mit gewöhnlichen Kriminellen gescheut und auch in Chile gibt es 2019 Anhaltspunkte dafür, daß zumindest Teile der diversen linksextremen Terrorgruppen des Landes Angriffe auf Polizisten und Plünderungen anheizen. Präsident Sebastián Piñera zählte diese Vorfälle in seiner Rede als Angriffe eines „gnadenlosen Feindes auf, der nichts und niemanden respektiert“.
Seine Ehefrau, Cecilia Morel, goß kurz darauf Öl ins Feuer, als sie in einer geleakten Audionachricht an ihren Freundeskreis davon sprach, daß sie nun „einige ihrer Privilegien abgeben und mit der Gesellschaft teilen müßten“.
Präsident Piñera kann sich nur auf sich selbst verlassen
Nicht nur bei den Demonstranten werden solche Äußerungen aus dem Präsidentenpalast La Moneda als Beweis einer privilegierten Kaste verstanden, die bisher Staat und Wirtschaft unter sich aufgeteilt hat. Ob sich Piñera vor diesem Hintergrund noch allzu lange auf das Militär verlassen kann, gilt mittlerweile nicht mehr als gesichert. General Iturriaga ließ dazu kurz und knapp verlauten, er „befinde sich mit niemandem im Krieg“. Eine Klarstellung, die als klare Kritik der traditionell selbstbewußten Streitkräfte am Präsidenten aufgefaßt wird.
Nach einer Großdemonstration mit einer Million Teilnehmern in den größten Städten des Landes in der vergangenen Woche hat die Regierung Piñera mittlerweile alle Minister zum Rücktritt aufgefordert und die Ausgangssperre für die nächsten Tage aufgehoben – die damit beauftragten Streitkräfte verkündeten allerdings demonstrativ, diese bereits früher als vom Präsidenten beauftragt aufzuheben. Es verdichten sich die Anzeichen, daß sich Piñera im Moment nur noch auf sich selber verlassen kann.