Werner Bergengruens Roman „Der Großtyrann und das Gericht“ erschien 1935 und wurde umgehend zu einem Bestseller im Dritten Reich mit rund 200.000 verkauften Exemplaren. Er handelt von der aufwendigen Suche nach dem Mörder eines Paters, der auch als Diplomat fungierte. Die Tat versetzt Cassano, einen fiktiven italienischen Stadtstaat der Renaissance, in größte Erregung. Der dortige Großtyrann verlangte nämlich von seinem gefürchteten Polizeichef, das Verbrechen innerhalb von drei Tagen aufzuklären. Falls nicht, bedroht er ihn selbst mit dem Tod.
Die so forcierte Täter-Hatz verwandelt die Gemeinde umgehend in einen Ort der Einschüchterung, Lügen, Intrigen und unfundierten Beschuldigungen auch hochgestellter Bürger. Um allem ein Ende zu machen und die vergiftete Atmosphäre in der Stadt wieder zu reinigen, bezichtigt der fromme Färber Sperone sich fälschlich selbst. Doch nun gesteht der Großtyrann, die Tat aus staatspolitischen Gründen begangen, aber die Gelegenheit genutzt zu haben, seine Untertanen zu prüfen. Anschließend hält er über das peinliche Ergebnis Gericht. Doch der Priester Don Luca wirft ihm vor, als unbefugter „Weltenrichter“ „widergöttliches Spiel“ getrieben zu haben. Der Potentat akzeptiert diese Anklage, und am Ende gewährt man sich wechselseitig Vergebung.
Anspielungen mit Bezug auf das Dritte Reich
Der Roman ist ein spannend zu lesender Krimi, ein Fürstenspiegel mit negativen Gegenwartsbezügen und vor allem ein erzählerisch durchgespieltes Polit- und Gesellschaftsmodell. Regimegegnern bot es zahlreiche Ansatzpunkte, Parallelen zum NS-Regime zu ziehen. Dabei ist das Buch im ganzen kein Schlüsselroman oder gar eine historisch kostümierte Hitler-Darstellung. Es spielt allerdings auf etliches an, was auf das Dritte Reich bezogen werden konnte: des „Führers“ Kinderlosigkeit etwa, seine exzessive Bautätigkeit und Berufung auf die Jugend wie das einfache Volk, Kirchenkampf und Konkordat, die Machtrituale absoluter Herrschaft samt unterworfener Justiz, Geheimpolizei und Spitzelwesen, dessen unheilvolle Wirkung anschaulich gezeigt wird. Werke der Inneren Emigration zeichnen sich ohnehin meist weniger durch üppige Korrespondenzen mit aktuellen Geschehnissen als durch ihr grundsätzlich verschiedenes Ethos zu den politischen Forderungen des Tages aus.
Solche Kontraposition im Verein mit den Attraktionen seiner reichen Fabulierlust festigten Bergengruens Stellung im Literaturleben bis in die 1960er hinein. Der deutsch-baltische Autor war „Abiturdichter“ mit einer Gesamtauflage von etwa sechs Millionen verkauften Büchern. Noch 1967 gehörte er laut Spiegel-Umfrage neben Hesse und Peter Bamm zu den meistgelesenen Schriftstellern deutscher Studenten. Daß spätere Lesergenerationen ihre Gunst anderen schenken oder Schreibweisen veralten, ist nichts Ungewöhnliches. Doch konkurrieren die in früheren Epochen lebenden Autoren ja nicht mit den jeweils aktuellen und ihrem gewandelten Geschmack für Stoffe und Stile. Und wer Literaturgeschichte im Wortsinn ernst nimmt, schenkt auch der ehemaligen Prominenz wenigstens soviel Aufmerksamkeit, daß deren zeitgenössische Hochschätzung erklärbar bleibt.
Rezension im „Völkischen Beobachter“
Das trifft auf Bergengruen keineswegs zu, und von seiner gezielten Dekanonisierung ist auch der „Großtyrann“ betroffen. Neben sprachlicher Abwertung stellte man seine Bedeutung als Widerstandstext in Frage, wobei manche Vieldeutigkeit oder Überinterpretation zeitgenössischer Leser ihm selbst angelastet wurde. Auch verwies man darauf, daß die Romankonzeption bereits in die zwanziger Jahre zurückreicht oder der Herrscher gar als positive, zu Umkehr und Reue befähigte Figur gezeichnet sei. Und kaum einer der Verächter verzichtete auf den Hinweis, der Roman habe sogar die Billigung des Völkischen Beobachters gefunden (Kritik vom 7. Dezember 1935).
Nun fallen die frühen Anfänge der Erzählung allerdings wenig ins Gewicht angesichts des Umstands, daß der größte Teil des Buches erst 1933/34 verfaßt und durch die politische Atmosphäre jener Zeit unverkennbar geprägt wurde. Bergengruen selbst schilderte, daß die ursprünglich eher religiöse Rechtsparabel plötzlich eine „unheimliche“, ja „fürchterliche Aktualität“ gewonnen hätte. Auf solche seelische Verheerung zielt bereits das vorangestellte Motto des Buches, „Ne nos inducas in tentationem“ (Und führe uns nicht in Versuchung), sowie dessen Präambel:
„Es ist in diesem Buche zu berichten von den Versuchungen der Mächtigen und von der Leichtverführbarkeit der Unmächtigen und Bedrohten. Es ist zu berichten von unterschiedlichen Geschehnissen in der Stadt Cassano, nämlich von der Tötung eines und von der Schuld aller Menschen. Und es soll davon auf eine solche Art berichtet werden, daß unser Glaube an die menschliche Vollkommenheit eine Einbuße erfahre. Vielleicht, daß an seine Stelle ein Glaube an des Menschen Unvollkommenheit tritt; denn in nichts anderem kann ja unsere Vollkommenheit bestehen als in eben diesem Glauben.“
Mutige Haltung gegenüber der Macht
Worin aber besteht das scheinbare Skandalon einer wohlwollenden Rezension im Völkischen Beobachter? Bevor man urteilt, sollte man sich den genauen Wortlaut anschauen und ihn im Rahmen zeitüblicher Kulturpraxis mustern, was schon aus Kompetenzmangel eher selten geschieht. Denn neben dem schlichten Faktum, daß ein offenbar Bergengruen von früher her schätzender Anonymus das Buch empfiehlt, wäre dessen selektive Lesart zu beachten, die sein Lob gegenüber seinen ideologischen Vorgaben rechtfertigt. Und wo es heikel wird, hat er sich kritisch abgesichert. Wie die „hin und her getriebenen Menschen“ von Cassano, schreibt er, „innerlich vor dieser Aufgabe versagen, während der Tyrann selbst eine überlegene und eine, bei allem Gefühl für seine eigene Schwäche, gewisse menschliche Haltung an den Tag legt, ist interessant dargestellt, wenn auch eine müde, allzu skeptische Stimmung das Buch durchzieht.“
Doch wie legitim ist überhaupt ein Werk mit einer positiven Herrschergestalt, das im Referat vieler Germanisten sogar zum „Führerroman (der Renaissance)“ versimpelt wurde, während in der Kritik des Völkischen Beobachters lediglich von „einer der Herrengestalten der italienischen Renaissance“ die Rede ist? Falsch gestellte Fragen führen selten zu richtigen Antworten. Denn es gibt neben Bergengruens Text unangepaßte historische Romane im Dutzend, in denen eine im Grunde totale Systemkritik an einem prinzipiell positiven Monarchen aufgehängt wird. Schließlich kommt es gar nicht so sehr auf die Zentralfigur an, sondern auf den Konflikt mit der oder die mutige Haltung zur Macht.
Überzeitlichkeit hat ihren Sinn
Hierin liegt die eigentliche nonkonformistische Botschaft. Denn wenn bereits ein mit einer Teilsympathie gezeichneter Herrscher solchen Verführungen der Macht erliegt, welche Gefahr verkörpert dann erst der charakterlich ungefestigte Despot, den NS-ferne Leser täglich realiter vor Augen hatten. Und diejenigen im Lager der Hitler-Befürworter, die durch solche Lektüre überhaupt noch ansprechbar waren, dürften vielleicht durch Kernsätze der Präambel berührt worden sein, die sich gegen die Illusion menschlicher Vollkommenheit und damit auch gegen Führervergötzung richteten.
Daß dieser Roman nicht ausdrücklich oder ausschließlich auf die NS-Epoche zielt, stört heutige Bergengruen-Verächter, deren Weltbild durch Singularitätsdogmen erkenntnismäßig verstellt ist. Aber typologische Überzeitlichkeit hat auch ihren Sinn. Und was scheinbar so verblasen allgemein wirkt, weil es nicht (wie im Exil) unzweideutig Roß und Reiter nannte, gewinnt an Einsichten, wenn man sich eines verdeutlicht: Unterdrückung, Denunziation und Spitzelwesen gab oder gibt es nicht nur in einer Epoche und einem Regime. Gerade wir im Jahr 2019 sollten besser nicht so tun, als beschränke sich dergleichen nur auf 1933/45.
Daß gleichwohl der Text auch zur Entstehungszeit als sensationelle Tat empfunden wurde und keineswegs als Gegenwartsflucht, ist von Zeitzeugen vielfach belegt. Exemplarisch formulierte dies Otto von Taube in der Frankfurter Zeitung. „Die Handlung“ schrieb er, „ist von einer erregenden Spannung, als wären wir an ihr mitbeteiligt, litten unter dem giftigen Schirokko, der die Unheilswochen durchweht, und atmen auf am frischen Gerichtsmorgen, der den besseren Seelen die sittliche Kraft stärkt“.
Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Historiker und Germanist. Seine Serie zu Schlüsseltexten der Inneren Emigration wird in loser Folge fortgesetzt.