Leonardo da Vinci, Grenzgänger vom Mittelalter zur Neuzeit, darf als einer der wichtigsten Popstars des frühen 21. Jahrhunderts gelten. Längst haben Bestsellerautoren die zahllosen geheimnisvollen Anspielungen in seinem kaum auszuschöpfenden Œuvre, das Kunst, Wissenschaft und Technik umfaßt, zu viel gelesenen (und verfilmten) Thrillern verarbeitet. Diese Rezeption auf kryptischen Wegen kommt der Biographie des Universalgelehrten durchaus nahe, galten doch schon für seine Zeitgenossen neben der Genialität seine Unnahbarkeit und Zurückgezogenheit als ihn auszeichnende Merkmale. Vieles mußte er in Nacht-und-Nebel-Aktionen ausführen, etwa die Sezierung von Leichen. Bereits vor seinem 500. Geburtstag war er wieder einmal in aller Munde, als das ihm zugeschriebene Bild „Salvator mundi“, wohl um 1500 entstanden, als das teuerste je versteigerte Gemälde in New York einen neuen Eigentümer fand.
Einen anderen Leonardo präsentiert derzeit das Museum der Universität Tübingen. Der italienische Meister gibt mittels vieler hinterlassener Konzeptskizzen und Studienzeichnungen wesentliche Einblicke in den Wissenskosmos seiner Epoche. Berühmt ist vor allem seine „Proportionszeichnung nach Vitruv“. Anatomische Studien faszinierten ihn besonders. Sein Geist lotete Horizonte aus, die erst Jahrhunderte später als realistisch erkannt werden. An seiner Genialität ändert auch die Tatsache nichts, daß sich alle seine Konstruktionen als nicht umsetzbar erwiesen haben. Das leuchtet insofern ein, als er mathematische und idealtypische Ansätze in den Mittelpunkt seines Denkens stellte. Die Praktikabilität stufte er eher als sekundär ein.
Die Natur beobachten und künstlich nachbilden
Auf Leonardo trifft die Bezeichnung „Uomo universale“ vollauf zu. Wie die Elite seines Zeitalters zur Technikeuphorie neigte, so personifizierte er diesen verbreiteten Trend. Technik betrachtete man allgemein nicht mehr als zweitrangig gegenüber der Natur, die als göttliche Schöpfung lange Zeit Vollkommenheit beanspruchte; vielmehr traute man ihr zu, das Natürliche zu übertreffen und zu perfektionieren. Technik sah man deshalb nicht nur als erlaubt an, sondern zunehmend sogar als geboten.
Besondere Freude bereitete es Leonardo aufzuzeigen, wie die biologisch bedingten Beschränkungen des Menschen überwunden werden könnten. Selbst das Leben in Meerestiefen und in der Luft erschien nicht mehr als Ding der Unmöglichkeit. Utopia – das Wort kam erst in seinen späten Lebensjahren auf – kann durchaus, so seine optimistische Sicht, auf vielfältige Weise realisierbar sein. Man brauchte doch lediglich Vögel, Fische, ja die Natur insgesamt zu beobachten und daraus Schlußfolgerungen zu ziehen sowie entsprechende Fertigkeiten künstlich nachzubilden.
Nun haben es Kenner und Bewunderer da Vincis stets bedauert, daß den Schöpfungen seines Geistes nichts Plastisches gegenübersteht. Aus diesem Grund haben Handwerker aus seiner Heimat, der Umgebung von Florenz, vor rund zwei Jahrzehnten die Zeichnungen als Anregungen zur Modellierung aufgegriffen. 50 dieser Nachbauten sind nun in einem hinteren Teil des Museums zu bestaunen, umgeben von Repliken antiker Skulpturen, die der Schau einen feierlichen Rahmen geben sollen.
Arbeiten zum Perpetuum mobile
Als Beispiele für die fast kongeniale Umsetzung sind anzuführen: ein beeindruckender Kran, ein Lastenheber, ein Zahnstangengetriebe, eine Wasserpumpe, ein Nockenwellenhammer, ein Kettengetriebe, eine Triebstockverzahnung, ein Kugellager, ein Fluggleiter, alle möglichen mechanischen Geräte und einiges mehr. Auch militärische Anlagen hat er konzipiert; seine Fähigkeiten haben sich schnell an den einzelnen Herrscherhöfen herumgesprochen. Unterschiedliche Zeichnungen im Codex Atlanticus sind erhalten, die Feuerwaffen beim Abschießen von Stein-, Blei- und Eisenkugeln zeigen. Leonardos Erfindermentalität ist auch auf diesem Gebiet unerschöpflich! Manche Maschinen darf der Besucher sogar ausprobieren; besonders für Kinder ist das ein großes Vergnügen!
Doch worin liegt nun die Bedeutung der Zeichnungen, wenn sie aufgrund fehlender Umsetzung den damaligen Alltag – ungeachtet der Bedürfnisse der Zeitgenossen – nicht erleichtern konnten? Die Maschinen offenbaren etliche der physikalischen und mechanischen Gesetze, die die Basis der frühneuzeitlichen Naturwissenschaften bildeten. Galileo Galilei hat guten wissenschaftlichen Humus vorgefunden, als er über zwei Generationen nach Leonardos Tod zu forschen begann.
Die Forschungen über Leonardo haben vielfach zutage gefördert, welche Quellen ihm selbst vorlagen. Häufig hat er dieses Material durchdacht und weiterentwickelt. Vieles ist so grundgelegt, daß es zum Teil wesentlich später und deutlich abgewandelt doch noch praktisch verwirklicht werden konnte.
Besonders zu verweisen ist auf Leonardos Arbeiten zum Perpetuum mobile. Auch hier nahm er Anregungen aus dem hohen Mittelalter (von Villard de Honnecourt) auf. Aus Überlieferungen geht hervor, wie intensiv er sich mit dieser Materie beschäftigt hat. So gab es Konstruktionen von „ewigen Rädern“. Scheinbar drehten sie sich ohne Energiezufuhr. Sie schienen so perfekt, daß die Reibungsverluste unerheblich zu sein schienen. Selbst Leonardo war davon so fasziniert, daß er zeitweise von der Plausibilität überzeugt war. Am Ende siegte jedoch sein nüchterner, desillusionierter Verstand.
Man kann die Versuche, ein echtes Perpetuum mobile zu erschaffen, die damals gern als Aufgabe des wissenschaftlichen Verstandes gesehen wurden, als naiv abtun. Nicht zu vergessen jedoch ist, daß auch heute noch entsprechende Anträge auf Patentämtern gestellt werden, die vorgeben, solche Apparaturen konstruieren zu können. Widersprüche gegen einen der thermodynamischen Hauptsätze, so meinen wohl manche dieser Hobbyingenieure, seien vernachlässigbar.
Der hervorragend gestaltete Begleitkatalog der Ausstellung schlägt einen Bogen zur unmittelbaren Gegenwart. Eine Autorin, Catrin Misselhorn, die zu den ausgewiesenen Kennern der Roboterethik in Deutschland gehört, weist darauf hin, daß ein humanoider Roboter (in Gestalt eines Ritters) zu den großartigen Kreationen des Renaissancegenies zählt. Es handelt sich tatsächlich um eine Kreuzung von Mensch und Maschine. Misselhorn unterstreicht die wegweisende Bedeutung, die Leonardo auch auf diesem Sektor zukommt.
Ein großer Vorteil der Schau, übrigens die einzige nennenswerte zum 500. Geburtstag Leonardos in Deutschland, ist ihre Übersichtlichkeit. Man sieht viel auf erstaunlich kleinem Raum.
Die Ausstellung ist bis zum 1. Dezember im Museum der Universität Tübingen, Schloß Hohentübingen, Burgsteige 11, täglich außer montags von 10 bis 17 Uhr, Do. bis 19 Uhr, zu sehen. Der Ausstellungskatalog mit 400 Seiten kostet 29,90 Euro.