Die vor 30 Jahren in den Mauerfall mündende Implosion des SED-Regimes zelebriert die mediale Gedächtnisbewirtschaftung in gewohnt vordergründiger Weise mit bunten Bildern und einfältigen Texten, die die Botschaft vermitteln, daß 1989 der Kalte Krieg endete, die Demokratie und Freiheit des Westens über die sozialistischen Diktaturen des Ostens triumphierte.
Aus der Perspektive des Göttinger Wirtschaftshistorikers Hartmut Berghoff ist das nicht einmal die halbe Wahrheit. Für ihn symbolisiert der 9. November 1989 vor allem eine „weltwirtschaftliche Zäsur“, die in den 1990ern an „fünf entscheidenden Umbrüchen“ abzulesen sei (Historische Zeitschrift, 308/2019):
1. Der Untergang der DDR und des gesamten Sowjetimperiums transformierte die staatssozialistische Plan- in eine kapitalistische Marktwirtschaft.
2. Parallel dazu vollzog sich der für Historiker im Jahre 2050 vermutlich alle politischen Umwälzungen in den Schatten stellende „Durchbruch der digitalen Revolution“. Das 1995 eingeführte Internet habe eine Schlüsselrolle bei der „Entfesselung des Kapitalmarktes“ und dem „Umbau“ der nationalen Volkswirtschaften gespielt.
3. Die in den 1970ern anhebende neoliberale „Globalisierungswelle der industriellen Moderne erreichte [nach 1989] eine bis dahin beispiellose Intensität“, die sich fast überall in „Deregulierungsprozessen“ realisierte. Die Mobilität von Kapital, Waren und Dienstleistungen „nahm dramatisch zu“. China, Indien und einige andere emerging economies öffneten sich, wie Berghoff euphemistisch-anonymisierend formuliert, „dem Weltmarkt“. Um ihnen das zu erleichtern, schob die 1994 abgeschlossene Uruguay-Runde des GATT bis dahin bestehende „Handelshemmnisse“ beiseite.
Rot-Grün hat Hedgefonds deutschen Markt geöffnet
4. Der 1993 etablierte europäische Binnenmarkt sei „der wichtigste Schritt der Integration Europas seit den Römischen Verträgen“ von 1957 gewesen. Mit dem Beitritt von weiteren dreizehn Staaten expandierte dieser Kontinentalmarkt dann bis 2004 in Richtung Ost- und Südosteuropa. Mit der Einführung des Euro als Bargeld (2002) entstand ein einheitlicher Währungsraum, der grenzüberschreitende Transaktionen zwar erleichterte, den Wettbewerbsdruck aber immens erhöhte und die von Kritikern des Euro prophezeiten, von der „Griechenlandkrise“ nur ausgelösten schweren politisch-ökonomischen Verwerfungen zeitigte.
Dieses „europäische Projekt“ ging mit einer Welle von „Deregulierungsoffensiven“ und „Anpassungen des Wettbewerbsrechts“ einher. Öffentliche Versorgungsunternehmen, Post und Bahn verloren deswegen ihre „Monopolprivilegien“.
5. Der globale Kapitalmarkt gewann infolge „Finanzialisierung“ der Realwirtschaft an Bedeutung. Ausgerechnet die 1998 ins Amt gewählte rot-grüne Bundesregierung Schröder/Fischer trug mit ihren „wirtschaftsfreundlichen Reformen“, gipfelnd 2004 im Investment-Modernisierungsgesetz, das angelsächsische Hedge-Funds einlud, sich an deutschen Unternehmen zu beteiligen. Mit dem umgehend registrierten Effekt, daß der Anteil ausländischer Investoren am Grundkapital der 30 Dax-Konzerne, das sich seit 1990 ohnehin schon auf 35 Prozent mehr als verdreifacht hatte, sich bis 2011 auf 56 Prozent erhöhte.
Die Umstellung der globalisierten deutschen Wirtschaft von der Logik der Produktion auf die Logik des Profits hat der damalige SPD-Parteivorsitzende Franz Müntefering als Einfall „verantwortungsloser Heuschreckenschwärme“ gegeißelt. Tatsächlich habe die enthemmte rot-grüne Kapitalmarktförderungspolitik dem Zerstörungswerk vieler „extrem renditenorientierter“ US-Beteiligungsgesellschaften Vorschub geleistet, den Personalabbau und eine „regelrechte Ausplünderung“ von Unternehmen forciert. Nur, wie Berghoff süffisant anmerkt, sei gerade die Arbeitnehmerpartei SPD dafür mitverantwortlich, und niemand anderes als Müntefering habe, kaum im Amt, 1998 als Bundesverkehrsminister das staatliche Unternehmen Tank & Rast an ein internationales Konsortium von Finanzinvestoren verscherbelt.
Die „Heuschreckendebatte“, von der IG Metall noch im Bundestagswahlkampf 2005 angeheizt mit Parolen wie „US-Firmen in Deutschland – Die Aussauger“, sei aber ohne praktische Folgen verlaufen und habe an der voranschreitenden Öffnung des „rheinischen Kapitalismus“, der sogenannten Deutschland AG nichts geändert. Mit der Konsequenz von deren Auflösung und Vereinnahmung durch die angelsächsische Shareholder-value-Ökonomie, wie Wolfgang Streeck, der damalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftslehre, 2009 resümierte. Von dieser in den Pioniertagen des Industriezeitalters geformten Deutschland AG, ausgezeichnet durch Gemeinwohlorientierung, Eindämmung des Konkurrenzprinzips qua Koordinierung durch Verbände, Gewerkschaften und Staat, durch „Sozialpartnerschaft“ und effiziente Verwaltung, durch ein auf die Herstellung von Qualität verpflichtetes Produktionsregime wie durch leistungsfähige, tiefgestaffelte Bildungs-, Ausbildungs- und Forschungsinstitutionen, wollte Streeck nach zwanzig Jahren im Schleudergang der Globalisierung nur noch Umrisse erkennen.
Leitbilder wie soziale Verantwortung geopfert
Ein Fazit, dem Berghoff jedoch nicht zustimmt, weil er nach eingehender, freilich 2005 endenden Untersuchung des Umbaus deutscher Industriekonzerne behauptet, zumindest einige ihrer gewachsenen Strukturen und Mentalitäten würden sie weiterhin von der angelsächsischen Konkurrenz unterscheiden. Was erstaunt, da er doch auflistet, wie fundamental die „Amerikanisierung“ sich gestaltete. Leitbilder von ehedem, soziale Verantwortung und Demokratisierung, opferte selbst die „konservative Modernsierung“ bedenkenlos dem Fetisch „selbstzweckhafter Gewinnmaximierung“ des die globale Dehumanisierung forcierenden „Turbo-Kapitalismus“, wie der Sozialphilosoph Robert Kurz die Matrix dieser heraufziehenden „Horror-Kulturen“ in seinem „Schwarzbuch Kapitalismus“ (1999) nennt.
Was Berghoff beschreibt, deckt sich zwar in vieler Hinsicht mit dem, was auch Streeck, Kurz und viele andere Globalisierungskritiker vortragen, doch leitet er daraus mit seinem Material in Widerspruch stehende Urteile ab. So zeigt er auf, wie die „Führung nach Zahlen“, die neue Steuerungsgröße des 1997 eingeführten Geschäftswertbeitrags zur „totalen Mobilmachung“ von Management und Belegschaft führte, hektische Reorganisationen und schnelle Abfolgen von Käufen und Verkäufen von Unternehmensteilen erzwang. Der ökonomische Druck erzeugte ein „Klima der Angst“, in dem auch die Korruption aufblühte. Um die profitable „Plastizität des Unternehmens bis zu dessen totaler Zerlegung“ zu erreichen, hätten deutsche Konzernherrn Legionen US-Beratern den roten Teppich ausgerollt. Umgehend „erodierten die Sicherheiten des klassischen Industriezeitalters“. Die „Verflüssigung der Planbarkeit“ nahm für Belegschaften existentiell bedrohliche Formen an.
Es dürfe keine „unveräußerlichen Bereiche“ mehr geben, alles sei verkäuflich. Wertschöpfung könne überall standfinden, am besten dort, wo die Standortvorteile am größten, die Lohnkosten am niedrigsten sind. Alles sei „offener, flexibel und kurzfristig verschiebbar“ geworden. Das Prinzip Austauschbarkeit macht vor den Führungsetagen nicht halt. Den alten Manager der Deutschland AG mit seiner langen Hauskarriere ersetzte der neue Typ, wie ihn der von Sony abgeworbene Ron Sommer verkörperte, der 1995 an die Spitze der privatisierten Deutschen Post rückte.
Unter der Ägide dieser „medienaffinen Führungskräfte“ erfolgte die „Flexibilisierung des Sozialkontraktes“. Konkret: verschärfte Standortverlagerung in ferne Niedriglohnregionen, Ausweitung der Zeitarbeit, Schrumpfung der tarifvertraglich gut geschützten Stammbelegschaften. Nach 1995 nahm die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ab, die Quote der gering Beschäftigten stieg stark an und die der Zeitarbeiter verdreifachte sich.
Der Anteil der als Leiharbeiter eingestellten Hilfskräfte lag 1998 bei 21, dank rot-grüner „Reformen“ 2006 aber schon bei 41 Prozent und schob sich zudem in den Bereich der Facharbeiter und Hochqualifizierten vor. Die Kernbelegschaften dünnten aus, der Niedriglohnsektor verfestigte sich, häufige Wechsel lockerten die Bindung an den Betrieb. „Unstete Erwerbsbiographien und entstandardisierte Lebensläufe“ prägen inzwischen die Normalität des bundesdeutschen Arbeitslebens. Sozialer Widerstand kam dagegen nicht auf. Wie in den USA und Großbritannien sind die Gewerkschaften bestenfalls für die „reibungslose Abwicklung der Umbrüche“ zuständig, denn die Betriebsräte seien längst durch Privilegien und auch durch Korruption „auf Kurs gebracht“. Gegen den Verkauf eines Symbols der sozialpartnerschaftlichen Konsenskultur, von 48.000 Werkswohnungen an US-Immobilienfonds, 2005 von Thyssen Krupp durchgezogen, erhob sich daher kaum gewerkschaftlicher Protest.
Familienunternehmen als Garanten der Wirtschaft
Obwohl Berghoff diesen „einschneidenden Traditionsbruch“ wie die anderen, bis zur „Aushöhlung des traditionellen Sozialmodells“ gehenden Kapitulationen vor den „Spielregeln des Kapitalmarkts“ durchaus als solche benennt, klingt seine 35seitige Phänomenologie des neoliberalen Lebensmodells im zynischen Duktus der „Risikogesellschaft“ Ulrich Becks, des Mode-Soziologen der 1990er, aus: an die Stelle der Sicherheit der Bonner Deutschland AG sei im reißenden Strom von Globalisierung, Deregulierung und Digitalisierung für die Bürger der Berliner Republik das Angebot getreten, „an Chancen und Risiken des Marktes unmittelbar teilzuhaben“.
Trotzdem will Berghoff keinen „Kulturbruch“ erkennen, denn weiterhin sei der Finanzsektor hierzulande schwächer als in den USA, der Stellenwert der dem „Paternalismus“ frönenden Familienunternehmen bleibe hoch, deren Nahbeziehungen zu den Hausbanken sei intakt, die Investitionen richteten sich am langfristigen Werterhalt aus. Die Deutschland AG löste sich also nicht auf. Sie habe sich mit ihrem „ausgehöhlten Sozialmodell“ lediglich „flexibilisiert“.