Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist, praktisch ein Fluch! Oder, mit etwas Glück, ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorurteile und Privilegien schafft.“ Da ist sich Autor und Ich-Erzähler Saša Stanišic in Hamburg sicher. Aber in den bosnischen Bergen, im äußersten Osten, in dem aussterbenden Dorf Oskoruša, dessen Name eine Obstsorte ist, der serbokroatische Name für Sorbus Domestica, den Speierling, ein widerständiges Obst, in jenem Dorf, in dem sich der Friedhof der Urgroßeltern befindet, zählt allein die Herkunft.
„Das war alles das Land deines Urgroßvaters“, sagt der alte Bauer Gavilo und zeigt ins Nichts. „Baut doch was auf, dort, wo euer Haus stand! Baut ein neues! Ist ja euers“, sagt 200 Seiten später einer, der sich als Stretoje vorstellt, und auch ein alter Mann ist, aber einer, bei dessen Anblick sich die muslimische Mutter lieber Marija nennen läßt, weil „ein serbischer Name ihrer Skepsis lieber als der eigene“ ist.
In seinem neuen Werk „Herkunft“ begibt sich Stanišic auf Spurensuche. Eine Rückkehr aus einem seit der Wiedervereinigung um seine Identität ringenden Deutschland in sein Geburtsland Jugoslawien, das es nicht mehr gibt. Solange es die Sozialistische Förderative Republik Jugoslawien gab, also in seinen ersten 14 Jahren, „begriff ich mich als Jugoslawe“, schreibt der am 7. März 1978 geborene Autor, „wie meine Eltern, die aus einer serbischen (Vater), beziehungsweise bosniakisch-muslimischen Familie stammten (Mutter). Ich war ein Kind des Vielvölkerstaats, Ertrag und Bekenntnis zweier einander zugeneigter Menschen, die der jugoslawische Melting Pot befreit hatte von den Zwängen unterschiedlicher Herkunft und Religion.“
Vor den Massakern des Bosnienkrieges waren Mutter und Sohn aus Visegrad nach Deutschland geflüchtet. Sie fanden im August 1992 Aufnahme in Heidelberg, wo ein Onkel lebte. Sechs Jahre später emigrierten die Eltern in die USA. Saša Stanišic durfte bleiben, weil ihm in Heidelberg ein Sachbearbeiter in der Ausländerbehörde einen Aufenthalt für die Dauer des Studiums genehmigte, in der Buchstadt Leipzig ein Amtskollege eine Aufenthaltserlaubnis erteilte, die erst „mit der Beendigung der selbständigen Tätigkeit als Schriftsteller und der damit verbundenen Aktivitäten“ erlischt.
Geprägt durch ein „fremdes Leben in der Fremde“
„Das paßte gut. Ich wollte auch nichts anderes arbeiten“, schreibt Stanišic in „Herkunft“. Inzwischen hat er einen deutschen Paß, lebt in Hamburg und schreibt preisgekrönte Bücher: Auch dieses, sein persönlichstes, beginnt „mit dem Befeuern der Welt durch das Addieren von Geschichten“. Herkunft ist für Stanišic ein ebenso schwerer Begriff wie Heimat. Diese war in Heidelberg zuerst eine Unterkunft mit sechs Flüchtlingsfamilien im Haus, „alle permanent enttäuscht, von den Behörden, den Preisen“, alle wartend auf gute Nachrichten und ein besseres Leben, alle froh, noch am Leben zu sein: „Wir teilten uns mit Fremden ein fremdes Leben in der Fremde.“
Geformt hat ihn als Jugendlichen die Clique an der Aral-Tankstelle, die soziale Einrichtung war, Jugendzentrum, Getränkelieferant, Tanzfläche, Toilette. Hier fand Integration statt, reichten sich Bosnier und Türken die Hand, Griechen und Italiener, Rußland-, Polendeutsche, Deutschlands Deutsche, und wenn „plötzlich größere Mengen dürrer, schweigsamer Schwarzer auftauchten mit diesen blutunterlaufenen Augen, und da wußte man sofort: In Afrika hatte es mal wieder irgendwo geknallt.“
Aus den Erzählungen von Wojetek aus Polen, Piero aus Italien, Rike aus der DDR, Kadriye und Fatih aus der Türkei, Dedi aus Jugoslawien und Emil mit dem Danziger Großvater fabulierte Stanišic bisher seine Geschichten und drückte sich lange um die eigene: Als er in Boston deutsche Literatur und kreatives Schreiben unterrichtete und nach seiner Herkunft befragt wurde, sagte er sein „Großvater sei Jäger, Aussiedler aus Danzig. Ich sagte, meine Mütter seien Lesbierinnen. Ich sagte, Herkunft ist Zufall.“
Am Anfang von „Herkunft“ warnt er den Leser, daß er einige Male ansetzen, einige Enden finden und abschweifen werde. Die Geschichte, die er in Fragmenten und Episoden erzählt, ist eine Spurensuche, mit seiner Mutter, seiner Großmutter, im eigenen Gedächtnis nach Kindheitserinnerungen und aufgeschnappten Gesprächen. Es ist die Geschichte einer Rückkehr nach Oskoruša, nur wenige Kilometer von der heutigen serbischen Grenze entfernt, um über Vorfahren und Nachkommen zu schreiben, über Gräber und Wiedergänger, über Überlebende, Schlangen und Drachen: „Bevor ich den Friedhof von Oskoruša sah, hatte ich mir aus Herkunft im Sinne familiärer Abstammung nichts gemacht. Meine Großeltern waren einfach da. Den einen Großvater gab es noch, den anderen nicht mehr.“
Was aber passiert mit einem, der auf einem Dorffriedhof auf jedem zweiten Grabstein den eigenen Nachnamen liest? „Es erschien mir rückständig, geradezu destruktiv, über meine oder unsere Herkunft zu sprechen in einer Zeit, in der Abstammung und Geburtsort wieder als Unterscheidungsmerkmale dienten, Grenzen neu befestigt wurden und sogenannte nationale Interessen auftauchten aus dem trockengelegten Sumpf der Kleinstaaterei“, schreibt Stanišic, und doch tut er genau das. Plötzlich kam ihm in den Sinn, daß er, sollte er kinderlos bleiben, „der letzte männliche Stanišic“ wäre.
Trotzdem sollte es dauern, bis er sich an das mit dem Deutschen Buchpreis 2019 ausgezeichnete Werk „Herkunft“ wagte über die Frage: „Was waren das für Leute, meine Leute?“ Nach dem Besuch in Oskoruša schrieb Stanišic erst einmal über andere Menschen und was es für diese bedeutete, an einem bestimmten Ort geboren zu sein und dort nicht mehr leben zu dürfen oder zu wollen.
„Herkunft sind die süß-bitteren Zufälle, die uns hierhin, dorthin getragen haben“, schreibt Stanišic: „Ich stehe unter dem Baum der Erkenntnis, und der Baum wurzelt im Grab meiner Urgroßeltern, und im Geäst zischen keine Schlange und kein Symbol mehr. Er trägt einfach nur Blüten.“ Und nachdem die Herkunft geklärt ist, überläßt er es dem Leser, wie es mit dem Ich-Erzähler und der dementen Großmutter weitergehen soll. Der Autor bietet verschiedene Möglichkeiten und auch einen für alle geltenden Schluß – „wie es wirklich war“ – an.
Saša Stanišic: Herkunft. Luchterhand Verlag, München 2019, gebunden, 368 Seiten, 22 Euro