© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/19 / 08. November 2019

„Ein phantastischer Moment!“
Der Fall der Mauer gilt heute als die Sternstunde der Deutschen – die unmöglich gewesen wäre ohne die Friedliche Revolution, die Menschen wie Angelika Barbe herbeigeführt haben. Heute zieht die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin allerdings eine bittere Bilanz
Moritz Schwarz

Frau Barbe, wie war das, als Sie am 9. November 1989 die SED besiegt haben?

Angelika Barbe: Der 9. November war ein großartiger Tag! Aber der entscheidende war er nicht – das war vier Wochen früher, der 9. Oktober. 

Weshalb? 

Barbe: Weil das der letzte Tag war, an dem die SED mit Gewalt hätte reagieren können, was viele befürchtet haben. Doch dann strömten am 9. Oktober so viele Menschen auf die Straßen, daß sie von nun an in der Defensive war. Von nun an lief es quasi auf eine Öffnung der Mauer zu, auch wenn wir nicht ahnten, daß es so schnell gehen würde. So konnte ich die Nachricht zunächst auch nicht glauben – als sie sich aber als wahr herausstellte, war das ein unbeschreiblich phantastisches Gefühl! Dennoch, der Tag des Volkes war der 9. Oktober. Der 9. November dagegen wurde zum Tag der Staatsmänner, mit ihren Reden und ihrem Anspruch auf einen Anteil am Fall der Mauer. Bis heute gibt es deshalb im Westen kein Interesse am 9. Oktober – da man an ihm keinen Anteil hat, kann man an ihn auch keine politischen Ansprüche knüpfen. Im Gegensatz zum 9. November, mit dem sich etwa die Idee der „Europäisierung“ verbinden läßt. Was nicht heißt, daß man im Osten gegen Europa wäre – wohl aber haben viele hier Vorbehalte gegenüber einem EU-Staat. Der 9. Oktober aber, der allein der Tag der Ostdeutschen ist, paßt im Westen niemandem ins Konzept. 

Vielleicht wird seine Bedeutung im Westen einfach nicht voll verstanden? 

Barbe: Sicher, das auch. Doch geht es schon darum, die ostdeutsche Selbstbefreiung nicht anerkennen zu müssen. 

Wie das? Die Friedliche Revolution gilt doch als „die“ Sternstunde der Deutschen.

Barbe: Wenn das so ist, wieso werden die Ostdeutschen dann für politisch rückständig erklärt? Würde die Friedliche Revolution tatsächlich als die großartige demokratische Leistung anerkannt, die sie ist, wäre ihr Lob nicht nur Lippenbekenntnis, hätte man Respekt vor den Ostdeutschen und würde uns hier nicht wie ein politisches Entwicklungsland behandeln. 

Sie spielen auf die Debatte um den jüngsten AfD-Wahlerfolge an? 

Barbe: Es ist unsäglich, wie die Ostdeutschen wieder als demokratieunfähig hingestellt werden. Was ist das anderes als die völlige Mißachtung der Friedlichen Revolution? Dabei bedeutete diese, daß die Menschen den Mut aufbrachten, für Freiheit und Recht auf die Straße zu gehen, trotz der Angst, verhaftet oder erschossen zu werden. Und als das geschafft war, entstanden überall im Land Bürgerkomitees und Runde Tische.  

Aber war das nicht nur eine kleine Schicht?

Barbe: Natürlich war das nie die Mehrheit, aber auch im Westen war die nie politisch engagiert. Wohl aber ging es weit über uns Bürgerrechtler hinaus. Ich glaube, im Westen ist bis heute nicht klar, welches Ausmaß das hatte! Überall war Bewegung – Arbeiter gründeten Gewerkschaften, Eltern demokratisierten die Schulen, Studenten die Unis, Bürgerkomitees die Verwaltung – kaum ein Bereich, in dem sich nicht Bürger einmischten. Bürgerkomitees lösten sogar die Stasi auf! Da wurde nicht einfach nur die Politik demokratisiert, sondern eine komplette Gesellschaft! Und alles selbstgemacht, von Grund auf. 

Sie meinen, ohne die fertigen Strukturen, wie im Westen, wo es genügt, ohne selbst nachzudenken einfach mitzumachen? 

Barbe: Ich will nicht Ost- und Westdeutsche gegeneinander ausspielen, aber wenn, wie unlängst, zum Beispiel Christian Wolff, ehemaliger Pfarrer der Leipziger Thomaskirche, der erst nach der Friedlichen Revolution aus dem Westen kam, uns nun öffentlich belehrt, was Demokratie ist, bleibt mir die Spucke weg!

Wenn also nicht durch das von ihm, den Medien und meisten Politikern diagnostizierte Demokratiedefizit, wie erklären sich dann die Wahlerfolge der AfD? 

Barbe: Sie sind vor allem Ausdruck dessen, daß sich die Ostdeutschen bewahrt haben, was sie 1989 errungen haben – eine eigene Meinung. 

Wenn das stimmt, wäre das pikant, denn dann entspräche das Verhalten der etablierten Parteien und Medien ja dem der SED. 

Barbe: Darüber sollten die mal nachdenken! 

Welche Rolle hat dann die AfD inne?

Barbe: Sie ist der legitime politische Ausdruck jener, die nicht zufrieden sind. Daß das von vielen vor allem im Westen nicht kapiert wird, liegt daran, wie gesagt, daß die Friedliche Revolution nicht verstanden wurde, daß nicht verstanden wird, wie etwa die Selbstermächtigung der Kanzlerin, 2015 die Grenzen zu öffnen, hier gewirkt hat. Die Friedliche Revolution war auch ein Aufstand gegen die Willkür, die wir hier vierzig Jahre lang zu fürchten hatten. Stets war man von der Laune von SED-Funktionären abhängig, und die Erlangung von Demokratie und Rechtsstaat bedeuten hier deshalb sehr viel! Und dann kommt Frau Merkel und setzt einfach das Recht außer Kraft – und weder Parlament noch Medien schreiten ernstlich ein. Das war ein solcher Schlag ins Gesicht! Dachten wir doch, die Zeiten, in denen von oben verordnet wurde, hätten wir ein für allemal beendet. Und obendrein wurde Kritik daran in die „rechte Ecke“ geschoben. Dabei entsprang sie vielfach jenem demokratischen Sinn, der 1989 auch die Friedliche Revolution angestoßen und getragen hat. Und das gleiche gilt nach meiner Ansicht auch für Pegida. Ich habe damals den Rat Bert Brechts befolgt, sich selbst ein Bild zu machen und  war überrascht, über die vielen unterschiedlichen Menschen, die ich dort getroffen habe, über die interessanten und durchaus reflektierten Dinge, die sie erzählt haben und auch über die zum Teil klugen Sprüche auf ihren Transparenten.

Sie gehörten in der DDR zur Bürgerrechtsbewegung, zum Umfeld von Bärbel Bohley, Ulrike Poppe, Jens Reich, Marianne Birthler etc. Mit Markus Meckel und anderen gründeten Sie im Oktober 1989 die Sozialdemokratische Partei (SDP), die sogenannte „Ost-SPD“. Weshalb reden Sie heute so ganz anders als Ihre Mitstreiter?

Barbe: Ich rede wie damals: Ich sage, was ist.  

Werden Sie von den anderen angefeindet? 

Barbe: Nein. Es gibt zwar ein paar, die mich schneiden, aber mehr nicht.

Niemand hat Sie zur Rede gestellt? 

Barbe: Nein, allerdings stehen wir heute auch nicht mehr in Kontakt. 

Warum haben Sie sich damals für die SDP entschieden und nicht für das Neue Forum, das schließlich als die politische Hauptorganisation der Bürgerrechtsbewegung galt?

Barbe: Ich war einfach fasziniert, als mir Martin Gutzeit von der Idee erzählte. Denn zum einen war das Neue Forum damals noch keine Partei, sondern nur eine Gruppe. Doch eine Partei zu gründen, bedeutete die SED erneut herauszufordern. Insbesondere eine sozialdemokratische Partei, für die es nämlich nach dem Selbstverständnis der SED gar keinen Platz gab, schließlich sah sie sich ja selbst als die SPD – als historische Verschmelzung von SPD und KPD, deshalb: Sozialistische Einheitspartei. 

Warum haben Sie sich nicht gleich SPD genannt?

Barbe: Wir wollten es der SED nicht ermöglichen, uns als aus dem Westen gesteuert darzustellen. Die Vereinigung mit der SPD kam dann im September 1990, kurz vor der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl. Übrigens sehr zum Ärger der SED, die nämlich plante, sich selbst in SPD umzubenennen. 

Bitte? 

Barbe: Sie wollte ihr schlechtes Image abstreifen. Da wir aber schneller waren, mußte sie mit PDS vorliebnehmen: Partei des „demokratischen“ Sozialismus. Allerdings führte das Zusammengehen mit der SPD bei mir zu ziemlicher Ernüchterung, denn nur ein Teil der Partei um Willy Brandt nahm uns mit Freude auf. Für den anderen Teil waren wir Bürgerrechtler zuvor schon nur Störfaktor ihrer Beziehung zur SED. Zum Beispiel Walter Momper, Regierender Bürgermeister der SPD in West-Berlin, der noch im Oktober 1989 forderte, nicht auf uns, die demokratische Opposition zu setzen, sondern auf „Reformkräfte“ in der SED. Unfaßbar! 

Vielleicht glaubte er nur nicht, daß Sie sich durchsetzen würden?

Barbe: Nein, das hatte seine Ursache in der Freundschaft, die ein Teil der SPD mit der SED-Diktatur geschlossen und die sich spätestens mit dem skandalösen gemeinsamen SPD-SED-Strategiepapier von 1987 entwickelt hatte. 

Wer Entspannung will, muß zu vertrauensvoller Atmosphäre kommen, so ist das. 

Barbe: Entspannung ist ein Geben und Nehmen – anfreunden muß man sich dafür nicht. Und die SED hielt ihre Versprechen gar nicht, was in der SPD aber einfach hingenommen wurde, weil man die Freundschaft nicht riskieren wollte. Zu Recht hat etwa der ehemalige Bundesminister Dieter Haack, einer der Kritiker dieser Politik in der SPD, Egon Bahr, einem der Köpfe der Richtung, einmal angebrüllt: Von deiner Strategie „Wandel durch Annäherung“ ist nur noch die Annäherung an die SED geblieben!

Ist das fair? Die Neue Ostpolitik hat trotz allem Freiräume für die Opposition gebracht. Kein Bürgerrechtler, der später nicht betonte, wie wichtig etwa die KSZE-Verhandlungen gewesen seien. 

Barbe: Stimmt, aber ich kritisiere nicht die Annäherung an sich, sondern ihre Art. Nämlich, daß es dem Teil der SPD, der sie betrieb, nicht, wie er behauptete, um Freiheit und Demokratie ging, sondern darum, sich mit der SED anzufreunden – um mit ihr ein linkes Bündnis zu schmieden. Ich nenne das Verrat! Und diese Schuld hat die SPD nie aufgearbeitet – bis heute wird sie verdrängt und beschwiegen. 

1996 sind Sie aus Protest gegen die Zusammenarbeit mit der PDS ausgetreten. 

Barbe: Es ist für mich unfaßbar, daß ausgerechnet die SPD ermöglichte, alte SED-Kader wieder in Ämter kommen zu lassen. Leute, die nie ehrlich bereut haben! Etwa Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau, die als Kader im FDJ-Zentralrat in der DDR die militärische Erziehung an Schulen organisierte, also Kinder Handgranatenattrappen werfen ließ! Und heute gibt sie mit ihrer Partei die Friedensengel! 1989 haben wir geglaubt, diese Leute ein für allemal los zu sein – heute regieren sie uns wieder. Was für eine Verhöhnung aller ihrer Opfer! 

Wie haben Sie sich damals das Jahr Dreißig nach der DDR vorgestellt?

Barbe: Ich habe nie, wie Bärbel Bohley, die 1989 im Westen als führende Bürgerrechtlerin galt, geglaubt, es wäre möglich, die DDR zu reformieren. Ich  habe parlamentarische Demokratie und Rechtsstaat für richtig und realistisch gehalten. Und ich habe auch immer ganz selbstverständlich die Wiedervereinigung gewollt, schließlich war Deutschland doch ein Land. Allerdings hat Bärbel uns gewarnt – und heute muß ich sagen, sie hatte recht! Sie prophezeite: „Die ... Stasi-Strukturen, (die) Methoden, mit denen sie gearbeitet haben ... All das wird in die falschen Hände geraten. Man wird sie ein wenig adaptieren, damit sie zu einer freien, westlichen Gesellschaft passen. Man wird Störer nicht unbedingt verhaften, es gibt feinere Möglichkeiten, unschädlich zu machen. Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und mundtotmachen, derer die sich nicht anpassen, wird wiederkommen. Glaubt mir, man wird Einrichtungen schaffen, die viel effektiver arbeiten, viel feiner als die Stasi. Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformtion und der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.“ Ich hielt das damals für völlig übertrieben. Heute aber staune ich mit größtem Entsetzen, wie exakt sie doch den Nagel auf den Kopf getroffen hat! 






Angelika Barbe, die Biologin, geboren 1951 in Brandenburg an der Havel, engagierte sich ab 1986 in der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Erst im Friedenskreis Pankow mit Vera Lengsfeld und Freya Klier aktiv, gründete sie 1987 den Johannisthaler Frauenfriedenskreis und stieß 1988 zum Friedenskreis Friedrichsfelde um Reinhard Schult. Am 7. Oktober 1989 gründete sie mit anderen die Sozialdemokratische Partei (SDP), für die sie im April 1990 als Abgeordnete in die erste frei gewählte Volkskammer, das Parlament der DDR, einzog. Nach Vereinigung der SDP mit der SPD war sie von 1990 bis 1994 Abgeordnete des ersten gesamtdeutschen Bundestags und bis 1995 Mitglied im Parteivorstand. Aus Protest gegen eine Zusammenarbeit mit der PDS, der ehemaligen SED, trat sie 1996 zur CDU über und gründete mit Bärbel Bohley, Jürgen Fuchs und Ehrhart Neubert in Berlin das „Bürgerbüro“ zur Beratung ehemals politisch Verfolgter. 2000 wurde sie für das Amt des Landesbeauftragten Sachsens für die Stasiunterlagen vorgeschlagen. Bis 2017 war sie bei der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung tätig. 

Foto: Mauerfall in Berlin am 9. November 1989: „Würde die Friedliche Revolution im Westen wirklich respektiert, wäre ihr Lob nicht nur Lippenbekenntnis, würde man uns nicht wie ein politisches Entwicklungsland behandeln“   

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