© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/19 / 08. November 2019

Grenzenlos durch die Nacht
Mauersplitter: Als wir Deutschen in einer kalten Novemberabend vor 30 Jahren in den Mantel der Geschichte schlüpften

Neue Reiseregelung

Am Vormittag des 9. November erarbeiten im Ministerium des Innern Beamte sowie Stasi-Offiziere im Auftrag des SED-Politbüros einen gegenüber dem Entwurf vom 6. November verbesserten Ministerratsbeschluß für die ständige Ausreise aus der DDR. Die Bestimmung lautet: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.“ Die Veröffentlichung der Übergangsregelung ist für den 10. November, 4 Uhr, vorgesehen. Die später im ZK noch handschriftlich geänderte Ministerratsvorlage übergibt SED-Chef Egon Krenz an den Pressesprecher des ZK Günter Schabowski, ­ ohne ihn über die Sperrfrist zu unterrichten. Schabowski, der bei der ZK-Sitzung des Tages nicht dabei war, berichtet am Abend erst gegen Ende der direkt übertragenen Pressekonferenz im DDR-Presseamt auf Nachfrage eines Korrespondenten (um 18.53 Uhr) von dem verbesserten Reisegesetzentwurf. Auf weitere Nachfragen eines Journalisten, wann das in Kraft trete, gibt Schabowski zurück: „Das tritt nach meiner Kenntnis, ähh,­ ist das sofort, unverzüglich.“ Um 19.04 läuft bei DPA die Meldung über den Ticker: „Von sofort an Ausreise über innerdeutsche Grenzstellen möglich“, der West-Berliner Rundfunk berichtet, und Ost-Berliner strömen zu den innerstädtischen Übergängen Bornholmer Straße, Invalidenstraße und Sonnenallee.

Die Menge fordert die Öffnung der Grenze. Die Situation wird heikel, die Grenzsoldaten haben noch keinen Befehl zur Öffnung der Grenze, und die Menge vor den Grenzsperren ruft: „Tor auf! Tor auf!“ Gegen 21 Uhr stehen an der Bornholmer Straße bereits mehr als 1.000 Ost-Berliner. Der diensthabende Leiter der Paßkontrolleinheit am Übergang Bornholmer Straße, Stasi-Oberstleutnant Harald Jäger, hat gegen 20 Uhr im Fernsehen die Übertragung der Pressekonferenz mit Schabowski verfolgt. Um 21.20 Uhr genehmigt er einem Teil der Wartenden die Ausreise. Ohne deren Wissen, aber für die Stasi sichtbar, werden deren Ausweise noch als ausgebürgert gestempelt. Eine letzte böse Schikane, die von der Geschichte hinweggefegt wird. Wiederum ohne daß Jäger es weiß, entscheidet Krenz gegen 22 Uhr, dem Geschehen an der Mauer freien Lauf zu lassen. Unter dem Druck der Masse und von den Vorgesetzten allein gelassen öffnet Oberstleutnant Jäger („Jetzt entscheidst du’s auf eigene Faust“) um 23.29 Uhr das Grenztor an der Bornholmer. Zehntausende strömen nun ohne jede Kontrollen in den Westteil der Stadt.





Helmut Kohl in Warschau vom Mauerfall überrascht

Bei einem auf fünf Tage terminierten Staatsbesuch in Polen steckt Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) in mißlicher Lage: Kaum angekommen, platzt mitten in die Gespräche die Bombe aus Berlin. Während des Staatsbanketts mit Gastgeber Tadeusz Mazowiecki am Abend laufen die Drähte heiß. Aus Bonn informiert Ministerialdirektor Eduard Ackermann: „Herr Bundeskanzler, im Augenblick fällt gerade die Mauer.“ Kohl sitzt in Warschau ab vom Schuß, will aber auch die Polen nicht brüskieren. Ein großangelegtes Paket von Wirtschaftshilfen für das gebeutelte Land ist zugesagt. Von einem Korrespondenten gefragt, ob er sich nicht gerade an der falschen Stelle fühle, antwortet Kohl: „Ja, das fühle ich auch. Aber so ist das nun einmal mit Reiseplanungen.“ Was tun? Am Morgen des 10. November legt Kohl noch einen Kranz am Ehrenmal des Warschauer Ghettos nieder und unterbricht dann seinen Besuch, mit dem Versprechen, gleich wiederzukommen. Über Schweden und Hamburg (der Direktflug war nicht erlaubt) fliegen er und Außenminister Genscher nach Berlin-Tempelhof und rasen mit Blaulicht zur Kundgebung am Schöneberger Rathaus, dem damaligen Sitz des West-Berliner Abgeordnetenhauses. Schon am Sonntag nimmt Kohl im niederschlesischen Kreisau gemeinsam mit Mazowiecki an einer „Versöhnungsmesse“ teil – mit der berühmt gewordenen Umarmung der beiden Staatsmänner beim Friedensgruß.





Norbert Geis, CSU-Bundestagsabgeordneter, erinnert sich in der JF an jenen Abend:

„Während der Rede des Abgeordneten Karl-Heinz Spilker (CSU) zum Sportetat – ich habe an dieser Sitzung teilgenommen – wurde dem Redner ein Zettel hingereicht mit der Nachricht vom Fall der Mauer. Die Sitzung wurde sofort unterbrochen. Wenig später, der Plenarsaal hatte sich inzwischen gefüllt, eröffnete die damalige Bundestagsvizepräsidentin, Frau Annemarie Renger, erneut die Sitzung und verkündete den Fall der Mauer. Nach kurzen Redebeiträgen standen wir auf und klatschten Beifall. Ein Abgeordneter aus den hinteren Reihen stimmte das Deutschlandlied an. Wir haben mit einer spürbaren inneren Bewegung die Hymne gesungen. Vielen standen die Tränen in den Augen. Mir auch. Uns war klar, daß dies einer der entscheidenden Wendepunkte in der Geschichte unseres Volkes ist.“ – Auf Spilkers Zettel: stand:

„Von sofort an können DDR-Bürger direkt über alle Grenzstellen zwischen der DDR und der Bundesrepublik ausreisen.“





Berliner erobern die Mauer

Tausende West- und Ostberliner überwinden die Mauer am Brandenburger Tor, gehen durch das Tor und tanzen vor Freude auf der Mauer. „Wahnsinn“ wird zum unzählige Male fassungslos ausgerufenen Wort dieser Nacht. Viele Menschen aus Ost-Berlin weinen beim Überqueren der Sektorengrenze nach West-Berlin. „Die ganze Demütigung der Jahre, alles ist vorbei“, bricht es aus einer Frau aus dem Osten heraus, ein Mann ruft mitten auf dem Grenzübergang der Bornholmer Straße: „Das ist endlich unsere Stunde! Die Stunde der Freiheit.“ Kurz nach Mitternacht sind alle innerstädtischen Übergänge geöffnet. Ost-Berliner strömen zum Kurfürstendamm. „Mauerspechte“ der ersten Stunde schlagen auf der Westseite mit Hämmern und Meißeln Löcher in den Beton. Am Freitag, dem Tag nach dem Mauerfall, sitzen Menschen fröhlich auf der Mauerkrone am Potsdamer Platz.





Jürgen Wohlrabe singt die Nationalhymne

Der Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses, Jürgen Wohlrabe (CDU), stimmt zum Schluß der staatlichen Kundgebung am Tag nach dem Mauerfall auf der Freitreppe vor dem Schöneberger Rathaus die Nationalhymne an, zusammen mit Kanzler Kohl, Alt-Kanzler Willy Brandt, Außenminister Hans-Dietrich Genscher und West-Berlins Bürgermeister Walter Momper (SPD). Kohl sagt in seiner Ansprache: „Der Geist der Freiheit erfaßt heute ganz Europa – Polen, Ungarn und jetzt die DDR“ und: „Es lebe ein freies deutsches Vaterland!“ Wohlrabe und Kohl singen vor 20.000 Teilnehmern tapfer gegen ohrenbetäubendes Schreien und Pfeifen grün-linksradikaler Deutschland-Gegner an.





Bundesarbeitsminister Norbert Blüm

sieht die Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus im Fernsehen: „Da kann ich nur sagen, ich habe mich geschämt für Berlin und Deutschland. An einem Tag, wo es um Deutschland und Deutschland geht, kann denn der Fanatismus nicht mal einen Tag Urlaub machen“, sagt Blüm der Zeitung Die Welt vom 11. November 1989. (ru)





Reaktionen im Bundestag

SPD-Fraktionsvorsitzender Hans-Jochen Vogel:

„Diese Entscheidung bedeutet, daß die Mauer nach 28 Jahren ihre Funktion verloren hat.“

 CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender Al­fred Dregger:

„Wir alle können stolz darauf sein, einem Volk anzugehören, das seinen Willen zur Freiheit und zum Frieden so zum Ausdruck gebracht hat wie die Deutschen in Ost-Berlin, in Leipzig und anderswo.“ 





Chronik

Oktober 1989

Massenflucht hält an: Im Oktober gelingt 57.024 DDR-Bürgern die Flucht in westliche Länder; 30.598 Personen dürfen die DDR mit Genehmigung verlassen. Bei der Montagsdemonstration am 23. Oktober in Leipzig nehmen 300.000 DDR-Bürger teil und fordern Veränderungen ein. 

1. November 1989

Antrittsbesuch des neuen SED-Generalsekretärs Egon Krenz beim sowjetischen Staats- und Parteichef Michael Gorbatschow in Moskau: Krenz erläutert Gorbatschow die kommenden Schritte der DDR-Regierung, unter anderem den Entwurf des neuen Reisegesetzes. Danach werde jeder DDR-Bürger einen Paß und ein Ausreisevisum für Reisen in alle Länder erwerben können. Das neue Gesetz sei im SED-Politbüro verabschiedet und dem Ministerrat übergeben worden und solle noch vor Weihnachten in der DDR-Volkskammer angenommen werden.

1. November 1989

Die DDR gibt den Massendemonstrationen nach und läßt den paß- und visafreien Reiseverkehr von der DDR in die CSSR wieder zu.

3. November

Egon Krenz verspricht in einer abendlichen Fernseh- und Rundfunkansprache die baldige Veröffentlichung des Reisegesetz-Entwurfes.

4. November

Das Wochenende vom 4./5. November nutzen insgesamt 23.200 DDR-Bürger, um über die CSSR in die Bundesrepublik auszureisen. An den Grenzübergängen nach Bayern bilden sich kilometerlange Schlangen.

6. November

Die SED veröffentlicht den angekündigten Reisegesetz-Entwurf. Auslandsreisen sind auf 30 Tage beschränkt und bleiben genehmigungspflichtig. Die Leipziger Montagsdemonstranten lehnen den Entwurf am selben Tag als völlig unzureichend ab.

9. November

Die SED präsentiert einen überarbeiteten Entwurf. Die ungeschickten Erklärungen von ZK-Pressesprecher Schabowski werden so aufgefaßt, daß Reisen ab sofort und formlos möglich sind. Noch in der Nacht wird die Mauer funktionslos.

1. Dezember

Mit den Stimmen der SED-Fraktion streicht die Volkskammer die führende Rolle der SED aus der DDR-Verfassung.

Fotos: DDR-Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ um 19.30 Uhr: Sprecherin Angelika Unterlauf berichtet, daß Privatreisen ins Ausland ab sofort anlaßlos „beantragt“ werden können.; JF-Redakteure am 10. November auf der Mauer: Dieter Stein, Martin Schmidt (mit Flagge) und Annette Hailer (im roten Anorak); Am Tag des Mauerfalls außer Landes: Bundeskanzler Helmut Kohl beim Empfang durch den nicht-kommunistischen polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki (l.) am 9. November 1989 in Warschau. Als erster christdemokratischer Regierungschef besucht Kanzler Kohl die Volksrepublik Polen.; Bundeskanzler Helmut Kohl (r.) und der polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki am 12. November 1989 neben der Statue der heiligen Hedwig in Kreisau: Bei der deutsch-polnischen „Versöhnungsmesse“ umarmen sich beide Regierungschefs zum Friedensgruß. An den innerdeutschen Grenzen und in Berlin fallen sich derweil Deutsche von hüben und drüben in die Arme.; Freudenkundgebung vor dem Rathaus Berlin-Schöneberg: Der Präsident des West-Berliner Abgeordnetenhauses Jürgen Wohlrabe (r.), Bundeskanzler Helmut Kohl (2.v.r.), der Regierende Bürgermeister Walter Momper (an den Mikrofonen) und SPD-Ehrenvorsitzender Willy Brandt (2.v.l.) sprechen am Tag nach dem Mauerfall zu den Berlinern.; Am 10. November vor dem Rathaus Schöneberg, West-Berlin: Bereits am Nachmittag hatten sich Linksradikale in großer Zahl eingefunden, um „Hände weg von der DDR“ zu fordern und gegen die „Republikaner“ zu protestieren.