© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/19 / 08. November 2019

Alle streiten – außer Mutti
Zoff in der Union: Nach der verheerenden Wahlniederlage in Thüringen eskaliert der Richtungsstreit
Jörg Kürschner

Seit der Landtagswahl in Thüringen durchlebt die CDU eine tiefe Führungskrise, die den bevorstehenden Parteitag in Leipzig prägen wird. Verunsichert durch ihre schweren Verluste und die hohen Gewinne der AfD, streitet die Partei über Personen und Inhalte. Bundeskanzlerin Angela Merkel muß wegen der Kontroverse über die Grundrente um die Koalition mit der SPD fürchten, Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK)fehlt die Autorität, um den Abgrenzungsbeschluß zur AfD und Linken durchzusetzen.

Der Unmut über die Regierungschefin und AKK macht sich längst auch in der Bundestagsfraktion Luft, die lange Jahre zu den treuesten Unterstützern Merkels gehört hat. Wie so oft sind es enttäuschte Erwartungen, die zu handfesten Auseinandersetzungen führen. Der CDU-Innenexperte Armin Schuster brachte es auf den Punkt. „Meine Hoffnung war, das Doppel AKK mit Merkel würde uns als Partei stark nach vorne bringen. Das hat leider nicht funktioniert“.

Auch „Muttis Klügster“ teilt gegen Merkel aus

Trotz des knappen Siegs von AKK über Friedrich Merz auf dem Parteitag im Dezember war die CDU optimistisch in das Wahljahr 2019 gestartet. Doch war die Niederlagenserie deretwegen die Langzeit-Vorsitzende Merkel Ende Oktober zurückgetreten war, keinesfalls beendet. Von der Bremer Bürgerschaftswahl abgesehen, knallte der schwarze Balken, der im Fernsehen Gewinne und Verluste der CDU anzeigt, in den tiefen Abgrund. Viermal. Bei der Europawahl, bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg und zuletzt Ende Oktober in Thüringen. Die Zukunft der CDU scheint düster, bedingt auch durch das miserable Erscheinungsbild der Großen Koalition. An der Spitze steht Angela Merkel, die ausweislich der Umfragen weiterhin zu den beliebtesten Politikern in Deutschland zählt.

In der Bundestagsfraktion dagegen ist ihr Ansehen rapide gesunken. Dafür spricht das Ausmaß und die Form der Kritik an ihr. Ein „Totalausfall“ sei die deutsche Außenpolitik, attackierte „Parteifreund“ Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, die Kanzlerin. Der Außenminister sei ein Ausfall, Merkel wisse alles, tue aber nichts. „So geht es nicht weiter“. Diese hatte den ehrgeizigen Senkrechtstarter von einst 2012 zu einer argen Bruchlandung gezwungen. „Muttis Klügster“, wie er oft charakterisiert worden ist, wurde von ihr als Umweltminister aus dem Kabinett geworfen, nachdem er als Spitzenkandidat bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl eine historische Niederlage zu verantworten hatte. Und auch der aus Thüringen stammende Vorsitzende der Jungen Gruppe in der Unionsfraktion, Mark Hauptmann, betonte: „Wir müssen uns inhaltlich, aber auch personell neu aufstellen. Und deshalb ernsthaft darüber diskutieren, wie erreichen wir die Menschen wieder.“

Es würde allerdings zu kurz greifen, Röttgens Abrechnung nur als späte Rache eines gekränkten Politikers zu begreifen. Dieses Erklärungsmuster taugt ebensowenig bei Friedrich Merz, der ihr vorgeworfen hatte, seit Jahren habe sich „Untätigkeit und mangelnde Führung“ wie ein „Nebelteppich“ über das Land gelegt. Als indirekten Aufruf zum Sturz der Kanzlerin mag man seine Prognose interpretieren, „ich kann mir nicht vorstellen, daß diese Art des Regierens noch bis Ende 2021 so weitergeht“. Nach der Bundestagswahl 2002 hatte die CDU-Chefin ihren Gegenspieler Merz erfolgreich aus dem Amt des Fraktionschefs verdrängt. Der hat jetzt eine Grundsatzrede auf dem Parteitag angekündigt. Eine Kampfansage. 

Hessens Ex-Ministerpräsident Roland Koch hielt Merkel „Argumentationsenthaltung“ vor. Doch Merz’ Offensive ist keinesfalls unumstritten. „Der Parteitag sollte Themen und wie wir sie anpacken in den Mittelpunkt stellen, nicht Rivalitäten und Animositäten“, verlangte der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter. „Es muß Schluß sein mit den personellen Debatten“, forderte der Abgeordnete Thomas Jarzombek. Sogar ihr Widersacher Innenminister Horst Seehofer (CSU) stützte seine Kabinettschefin. Merkels treuester Verbündeter aus dem hohen Norden, Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther, wegen seiner Avancen gegenüber der Linken auch „Genosse Günther“ genannt, sprang Merkel wie gewohnt zur Seite. Es sei sehr offensichtlich, „daß es hier eher darum geht, alte Rechnungen zu begleichen“. Die Forderung nach einem vorzeitigen Ende von Merkels Amtszeit bezeichnete Günther als „Debatte, die von älteren Männern geführt wird, die vielleicht nicht ihre Karriereziele in ihrem Leben erreicht haben“. Die CDU-Seniorenunion protestierte umgehend.

Merkels seit Wochen anhaltendes eisiges Schweigen ist es, das ihre Kritiker auf die Palme bringt. Bis zum Wochenbeginn hatte sie sich nicht zum Ausgang der Thüringen-Wahl geäußert. Aber auch die Regierungspolitik läßt sie unkommentiert. Den heftigen Koalitionsstreit über die Grundrente oder den Dauerzwist zwischen der Verteidigungsministerin und Außenminister Heiko Maas (SPD) über eine Schutzzone in Nordsyrien – kein Sterbenswörtchen aus dem Kanzleramt. Da traute sich selbst die angeschlagene SPD, seit bald einem halben Jahr ohne gewählte Parteiführung, und provozierte die CDU. Wie „Mehltau“ habe diese sich über das Land gelegt, frotzelte Vizekanzler Olaf Scholz und möglicher zukünftiger SPD-Chef. Sogar das eher zurückhaltende FDP-Urgestein Hermann Otto Solms fand drastische Worte über den Syrien-Konflikt. „Dramatisch aber ist, daß die Bundesregierung auf der Weltbühne gezeigt hat, wie handlungsunfähig sie eigentlich ist“.

Neben Merkel bleibt die CDU-Chefin in der Dauerkritik. Der sächsische Bundestagsabgeordnete Marian Wendt: „Das muß die Frage des Parteitages sein: Können wir mit AKK in die Zukunft gehen? Ich habe da persönlich große Zweifel. Lieber ein Schrecken mit Ende als ein Schrecken ohne Ende“. Es gibt Mutmaßungen, die CDU-Chefin werde in Leipzig die Vertrauensfrage stellen. „Ich verweigere mich keiner Diskussion und ich verweigere mich keiner Abstimmung“. 

So angespannt war die Situation, daß sich CSU-Chef Markus Söder zu einer unmißverständlichen Warnung veranlaßt sah. Er bemühte einen historischen Vergleich. „Es darf auf keinen Fall wie bei dem Mannheimer SPD-Parteitag zugehen, als es zu einem Putsch von Lafontaine kam. Käme es so, würde es die CDU spalten“.

Eine Horrorvision für die Union, droht ihr doch die Diskussion über den mehrfach erneuerten Unvereinbarkeitsbeschluß zu entgleiten. Es blieb ohne jede Reaktion, daß der langjährige Regierungschef von Sachsen-Anhalt, Wolfgang Böhmer, für eine Öffnung zur Linkspartei plädierte, da diese sich verändert habe. Dagegen geriet Thüringens CDU-Fraktionsvize Michael Heym zur Unperson. „Man tut der Demokratie keinen Gefallen, wenn man ein Viertel der Wählerschaft verprellt. Rechnerisch reicht es für ein Bündnis aus AfD, CDU und FDP. Ich finde, das sollte man nicht von vornherein ausschließen“, hatte er erklärt. Kurzer Prozeß war angesagt. Bremens Fraktionschef Thomas Röwekamp: „Ich erwarte, daß die CDU Thüringen diese Person aus der Partei ausschließt.“

Marco Wanderwitz, Innen-Staatssekretär im Seehofer-Ministerium: „Leute wie Herr Heym haben in der CDU nichts verloren.“ Doch Heym, ein Vertrauter von Fraktions- und Parteichef Mike Mohring, ist ein Politiker mit Rückhalt im Wahlkreis. Der seit 1999 direkt gewählte Abgeordnete aus Meiningen blieb ob des Protests unbeeindruckt, warb vielmehr um Unterstützung. Mit gewissem Erfolg. 17 Thüringer CDU-Funktionäre forderten von Partei und Fraktion Gespräche mit allen Parteien. In ihrem „Appell konservativer Unionspolitiker in Thüringen“ schließen sie aber eine Koalition mit AfD oder Linke aus. Das sei „irre“, reagierte CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak hilflos. Erfreut zeigte sich dagegen AfD-Parlamentsgeschäftsführer Bernd Baumann. „Bürgerliche Mehrheiten gibt es nur mit uns“, meinte er gegenüber der JUNGEN FREIHEIT.