© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/19 / 08. November 2019

Als Sonnenblumen an der Mauer wuchsen
Die etwas andere Geschichte vom 9. November 1989: Das Ehepaar Mehlhausen kommt nach West-Berlin – und fühlt sich wie im Osten
Martina Meckelein

Der Blick aus dem Wohnzimmerfenster im Erdgeschoß reichte gerade einmal acht Meter weit. „Hier auf dem Bild sieht man das“, sagt Ingrid Mehlhausen und hält eine alte Schwarzweiß-Fotografie dem Betrachter entgegen. Auf der Rückseite ist mit Bleistift ein Datum geschrieben: Juli ’89. Ingrid Mehlhausen nahm das Bild damals heimlich auf. Denn Fotos von der Mauer zu machen, war in der DDR strengstens verboten. „Direkt an unserer eigenen Hauswand verlief der Fußweg, von dem aus Spaziergänger in unsere Wohnung schauen konnten. Dann kam die Straße. Wenn wir rausschauten, blickten wir auf die Mauer – nicht weiter.“ Doch auf dem Foto sind, wenn man ganz genau hinschaut, Waschbetonkübel zu sehen, aus denen Sonnenblumen in den Himmel zu wachsen scheinen. „Tja, die Blumenkästen hat die Abteilung Inneres des Bezirksamtes gesponsert, weil ich mich beschwert hatte. Die Sonnenblumen habe ich dann gepflanzt.“

„Das System wurde den  Bürgern gegenüber unsicher“

So beginnen die Erinnerungen von Ingrid (69) und Wolfgang Mehlhausen (71) an die Friedliche Revolution von 1989. Das Ehepaar lebte 14 Jahre in der Finnländischen Straße, parallel zur Bornholmer Straße. „Wir hätten gerne eine andere Wohnung mit mehr Fernblick bekommen, doch umziehen konnten wir nicht.“

Am 9. November 1989 wurde diese Adresse allerdings für das Ehepaar ein Logenplatz in der Weltgeschichte. Nur 100 Meter von ihrer Wohnung entfernt sammelten sich am Abend Tausende von Menschen. „Diese Massen – das war unvorstellbar“, sagt Wolfgang Mehlhausen. „Da standen ja nicht nur ein paar hundert am Schlagbaum – da warteten Tausende bis weit in die Bornholmer Straße rein, das sieht man ja gar nicht auf den Filmaufnahmen.“ Heute wohnen die beiden in einem geschmackvoll eingerichteten Doppelhaus in Pankow, in den Regalen stehen fein nach Themen sortiert die Bücher – Ingrid Mehlhausen war Bibliothekarin.

„Wissen Sie, solange man sich nicht gegen das System stellte, solange die SED das Gefühl hatte, sie umgarnen zu können, so lange war alles gut, da konnten sie auch etwas von denen bekommen. Wie eben die Blumenkübel an der Mauer.“ Ganz offiziell hatte sie sich beim Bezirksamt beschwert, weil sie vor ihrem Fenster jahrelang eine Baustelle wegen Kanalarbeiten hatte. „Ich schrieb denen dann, daß ich als Ausgleich Blumenkübel haben möchte.“ Und Ingrid Mehlhausen bekam sie – auf Weisung der Abteilung Inneres, dem bezirklichen kleinen Bruder des Ministeriums für Staatssicherheit. „Das Immergrün, das die eingepflanzt hatten, wurde schnell von Unkraut überwuchert. Da schrieb ich denen wieder, ich würde es entfernen und die Pflege übernehmen, wenn ich vom Gartenbauamt Gartengeräte bekomme und das herausgerissene Unkraut abgefahren wird.“

Das schien dem Schild und Schwert der Partei nicht suspekt. Die Hobbygärtnerin pflanzte Sonnenblumen, die sich an dem sonnigen Standort prächtig entwickelten. Vielleicht wollten sie auch nur einmal über die Mauer gucken, jedenfalls wuchsen sie so hoch, daß die riesigen Blüten gegen die Alarmdrähte stießen. „Ich dachte, die würden jetzt die Blumen abschneiden“, erinnert sich Ingrid Mehlhausen. Doch es kam anders. „Die Drähte, die so installiert waren, daß sie nicht den ‘Klassenfeind’ von drüben vom Übersteigen abhalten sollten, sondern die eigenen Bürger, wurden nun nach außen gedrückt, so daß die Blüten keinen Alarm mehr auslösten. Ich war wirklich erstaunt und hatte zum ersten Mal den Eindruck, daß das System wirklich uns Bürgern gegenüber unsicherer wurde.“

Sie hat sich einen Zettel gemacht, all die Dinge aufgeschrieben, die ihr wichtig erscheinen, besprochen zu werden. Da wäre zum Beispiel der kleine Taschenkalender, seit den sechziger Jahren führt die Bibliothekarin diese in Plastik eingeschlagenen Heftchen als eine Art Tagebuch. In ihm steht unter dem 9. November 1989: „16 Uhr, Meldestelle, Paß abholen, Mauerfall Westberlin.“ Nachdenklich sagt sie: „Ist das nicht seltsam, an einem solchen Tag, der rückblickend Weltgeschichte geschrieben hat, schreibe ich nur diese paar Worte?“

Ohne Stadtplan im      dunklen West-Berlin verirrt

Es sind teils nur Mosaiksteine, die Ingrid Mehlhausen von dem Tag in Erinnerung hat. Irgendwann klingelte ihre Nachbarin an der Tür. „So um 20 Uhr, da war es schon dunkel“, sagt ihr Mann Wolfgang. „Die Nachbarin erzählte, an der Bornholmer Straße könne man über die Grenze.“ Der kleine Sohn der Eheleute lag schon im Bett und schlief. „Wir wollten ja nur mal schauen, mein Mann hatte noch seine Hausschuhe an, so sind wir dann los, es waren ja nur ein paar Schritte.“

„Wir waren so um 22 Uhr an der Mauer“, erinnert sich Ingrid Mehlhausen. Doch am Grenzübergang gab es kein Durchkommen. „Wir haben da lange gestanden. Wissen Sie, der Film ‘Bornholmer Straße’ ist ja amüsant, aber es war nicht so, jedenfalls habe ich es so nicht erlebt. Wir haben da nicht miteinander geredet. Wir waren alle sehr konzentriert. Wir starrten eigentlich nur auf das Tor und riefen: ‘Macht das Tor auf, macht das Tor auf, wir kommen wieder’.“

In vier Stufen erfolgte die Grenzöffnung, sagt Ingrid Mehlhausen: „Bei den ersten wurde ein Stempel neben das Foto im Ausweis gedrückt, dann wollten die Grenzer den Personalausweis nur noch ansehen. Danach öffneten sie die Schranke für die Autos ohne Kontrolle. Und dann gab es kein Halten mehr, da sind die Leute rausgeströmt.“

Heute weiß man, daß um 23.29 Uhr Oberstleutnant Harald Jäger, damals stellvertretender Leiter der DDR-Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße, den Schlagbaum öffnen ließ (Seite 4 und 5). Wolfgang Mehlhausen erinnert sich sehr genau an den Moment, als er über die Grenze ging: „‘Genosse Oberleutnant’, sprach ich einen Grenzbeamten an, ‘geben Sie mir ihr Offiziersehrenwort, daß wir wieder zurückkommen? Mein kleiner Sohn schläft zu Hause in seinem Bett.’ Und er gab mir seine Hand und sagte: ‘Ja!’“

„Als der Grenzbaum geöffnet wurde und wir ‘rübergingen, lief bei mir ein Film ab. Ich sagte zu meiner Frau: ‘Ingrid, vertrau mir, hier geht es zum Bahnhof Gesundbrunnen.’“ Gemeinsam ging das Ehepaar über die Bösebrücke, über die die Grenze verlief, Richtung Westen. „Wir haben von weitem die hellen Häuser gesehen, und ich konnte die Doppeldeckerbusse erkennen, da kamen mir die Tränen, das war wie zu meiner Kindheit“, sagt Wolfgang Mehlhausen. Bis zum Mauerbau 1961 wandelte er zwischen den Systemen Ost-West fast täglich hin und her. Ein jugendlicher Grenzgänger. „Doch seither hatte sich vieles geändert – und einen Stadtplan von West-Berlin hatte zu diesem Zeitpunkt niemand von uns.“ Ingrid Mehlhausen erzählt dazwischen schmunzelnd: „Toll war ein Service der B.Z. am nächsten Tag, die hatten einen Stadtplan von West-Berlin in die Zeitung gelegt – den hätten wir in der Nacht gut gebrauchen können.“

„Zunächst aber war alles dunkel, wir gingen an den Gleisen der S-Bahn entlang, aber da war kein Licht. Irgendwann kamen wir auf eine Straße. Da war ein Fotogeschäft, das war zwar geschlossen, aber in seinem Schaufenster lagen Orwo-Filme aus. Mein Gott, dachte ich, das ist ja wie bei uns im Osten. Ich war enttäuscht.“

Das Gerücht, die Grenze würde wieder geschlossen

Doch so langsam wurde Ingrid Mehlhausen nervös, immerhin war ihr zehnjähriger Sohn allein in der Wohnung. „Meine Frau wollte nach Hause, hatte Angst um den Jungen. Ich sagte zu ihr, ‘mein Gott, Ingrid, warum soll er aufwachen, der wacht auch sonst nie auf?’“ Noch heute schaut Ingrid ihren Mann bei den Worten ein wenig skeptisch, aber immerhin mild lächelnd an. Betrunkene kommen damals auf die beiden zu und jubeln: „Hallo, wir kommen aus dem Osten, die Mauer ist offen.“ Irgendwann sieht auch Wolfgang Mehlhausen ein, daß er sich verlaufen hat. Auf seinem Weg kommt er nicht nach Gesundbrunnen. „Es war dort auf der Straße völlig einsam, die Straße war leer. Wir irrten in der Gegend herum, bis wir auf zwei Studenten trafen. Die sprachen wir an, fragten sie nach dem Weg zur Bornholmer Straße – und die beiden brachten uns bis zur Schranke. Zum Abschied gaben wir denen unsere Adresse.“

Völlig geschafft von ihrem Ausflug in den Westen erreichte das Ehepaar seine Wohnung. Der Sohn schlief seelenruhig, doch dann klingelte das Telefon. „Ein befreundeter polnischer Zeitungskorrespondent bat uns um ein Interview, es müsse alles ganz schnell gehen.“ Doch an Einschlafen war da sowieso nicht zu denken: „Die ganze Nacht hindurch hörten wir von draußen nur ein Wort: ‘Wahnsinn’.“ Und dann klingelte es noch einmal an der Tür. Die beiden Studenten, die sie zur Bornholmer Straße zurückgebracht hatten, standen davor. Bis morgens wurde gefeiert.

Am nächsten Tag rief bei Mehlhausens die Putzfrau aus der Bibliothek an. „Sie sagte, die Grenze würde um acht Uhr morgens wieder geschlossen“, erinnert sich Ingrid Mehlhausen. „Da bin ich aber ohne Zähne zu putzen los und habe im Wedding mein Begrüßungsgeld abgeholt. Daran kann man erkennen, wie außergewöhnlich und auch fragil die Lage war – wir wußten ja einfach nicht, ob es so bleiben würde.“

Ihre Wohnung in der Finnländischen Straße verließen die beiden 1994.

Die Sonnenblumenkästen verschwanden übrigens Anfang des folgenden Jahres – zusammen mit der Mauer.