© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/19 / 08. November 2019

„Gebt uns die Jugend zurück“
Interview: Großmufti Ahmad Badr ad-Din Hassun über den Westen und die Zukunftsaussichten von Syrien
Luca Steinmann

Herr Mufti Hassun, der Krieg hat in Syrien die Gesellschaft zersplittert. Wie kann das syrische Volk wieder zusammenfinden?

Hassun: Wir Syrer sollten uns ständig vor Augen führen, daß wir alle zum selben Volk gehören. Dieses Volk besteht aus 23 verschiedenen religiösen Gemeinschaften, die in den Jahrhunderten fast immer friedlich zusammenlebten. Vor allem in den vergangenen 60 Jahren, seitdem die Syrische Arabische Republik existiert, gestaltete sich das Zusammenleben sehr positiv. Jede ethnische und religiöse Gemeinschaft und jede Minderheit wie die Christen, die Drusen oder die Schiiten bekommt vom Staat denselben Schutz. Dann haben Terroristen durch ihre Anschläge und Zerstörungen versucht, die Positionen der verschiedenen Gemeinschatften zu radikalisieren, um eine Polarisierung zu schaffen. Was glauben Sie, warum die IS-Miliz Palmyra oder Maalula dem Erdboden gleichmachen wollten? Mit der absichtlichen Zersörung unserer archäologischen und kulturellen Herkunft wollten sie unsere gemeinsamen Wurzeln auslöschen und damit auch den gemeinsamen Nenner unserer Gesellschaft und unseres Zusammenlebens. Ein Volk ohne Wurzeln kann nicht zusammenhalten. Ein Volk ohne Vergangenheit kann keine Zukunft haben.

Was muß Ihrer Meinung nach geschehen?

Hassun: Zuerst muß unsere Armee ganz Syrien von Terroristen und den ausländischen Besatzungstruppen befreien. Es handelt sich ja nicht um einen reinen Bürgerkrieg, sondern um einen internationalen Kampf auf syrischem Boden. Dann sollten wir es den Flüchtlingen ermöglichen, in ihre Häuser zurückzukehren. Dafür ist es aber notwendig, daß die syrischen Bürger, die sich heute im Ausland befinden, wieder nach Syrien zurückkehren.

Die westlichen Regierungen betonen jedoch, daß es syrischen Flüchtlingen auch heutzutage nicht zuzumuten sei, in ihre Heimat zurückzukehren.

Hassun: Diese Regierungen haben ein Interesse daran, das syrische Volk zu zersplittern. Solange sie behaupten, Syrien sei wegen Baschar Hafiz al-Assad ein gefährliches Land, zwingen sie die Flüchtlinge doch dazu, zu sagen, daß sie von der Regierung verfolgt seien. Sonst würden sie ja ihren Flüchtlingsstatus verlieren. Dazu sage ich nur: Kommen Sie nach Syrien, um selber zu sehen, wie die Bürger hier leben. Kämpfe gibt es nur in begrenzten Gebieten, der Großteil des Landes ist frei und sicher. Jeder Flüchtling darf und kann also jederzeit zurück. Präsident Assad hat vor kurzem eine Amnestie verkündet. Daß heißt, daß nur diejenigen, die schlimme Verbrechen begangen haben, bei der Remigration Probleme bekommen werden. 

Der Durchschnittslohn in Syrien liegt heute zwischen 50 und 100 Euro, die Wohnungsmiete liegt in Damaskus aber bei 300 Euro. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Korruption enorm. Wieso sollte ein syrischer Flüchtling, der heute in Deutschland wohnt, sich für eine Rückkehr entscheiden?

Hassun: Syrien braucht seine Jugend zurück. Wir wollen das Land wieder aufbauen, wir brauchen also Unternehmer, Arbeiter, Fachkräfte, Künstler, Ingenieure. Es wird sehr viel zu tun geben. Der Westen weiß das und versucht dennoch durch Wirtschaftssanktionen unser Land zu schwächen und damit eine neue Auswanderungswelle in Kauf zu nehmen. Die Sanktionen schaden nicht der Regierung, sondern vor allem dem Mittelstand und den Unternehmern. Die Produktion kann oft nicht wieder starten, weil aufgrund der Sanktionen keine Maschinen oder Ersatzteile importiert werden können. Ich sage der Europäern: Wir haben heute gemeinsame Interessen. Wenn ihr keine neue Migrationswelle möchtet, dann solltet ihr euch gegen diese Sanktionen aussprechen. 

Sie sind die höchste muslimische Autorität Syriens, doch sprechen Sie fast wie ein Politiker. Westliche Politiker titulieren Sie gern als „Puppe von Assad“.

Hassun: Welche Politiker? Diejenigen, die im Namen der Demokratie diese Region angegriffen und zerstört haben? Diese Leute haben ein besonderes Verständnis von Demokratie. Sie kommen her und wollen uns mit Bomben überzeugen, daß wir ihre Art Menschenrechte akzeptieren sollen. Aber um welche Art Menschenrechte geht es? Diese Politiker sollten nach Syrien kommen und die Leute fragen, was sie möchten. Als Antwort würden sie hören, daß die Priorität des Volkes ist, friedlich zusammenzuleben – auch unter Assad. Es ist mir nicht bekannt, daß die Bürger des Westens von ihren Politikern verlangt haben, den Nahen Osten zu zerstören. Falls ich in ihrer Haut stecken würde, würde ich mich um meine eigenen Bürger kümmern und nicht an Syrien denken. So könnten sie dann vielleicht verstehen, warum immer mehr Bürger eher populistische Parteien unterstützen. Ich fürchte aber, daß ihr jetzt dafür zahlen werdet. 






Ahmad Badr ad-Din Hassun, 1949 in Aleppo geboren, studierte und promovierte an der renommierten staatlichen Azhar-Universität in Kairo. Seit 2005 ist er oberster muslimischer Geistlicher in Syrien.