© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/19 / 08. November 2019

Mißbrauch des Mißbrauchsskandals
Kirche: Der Film „Verteidiger des Glaubens“ über Joseph Ratzinger hat heftige Kritik ausgelöst
Marco F. Gallina

Eine „Pseudodokumentation“ die „nicht den historischen Tatsachen“ entspräche, Fakten verschweige oder Ausschnitte beinhalte, die „tendenziös und manipulativ“ seien – so bewertet der Theologe Christian Schaller den neuen Film über Benedikt XVI. Mit seiner Kritik an der Dokumentation „Verteidiger des Glaubens“ steht er im katholischen Lager nicht allein. Die Deutsche Bischofskonferenz sah sich genötigt, den Film in einer Pressemeldung zu rügen. Man begrüße zwar jeden „konstruktiven Beitrag zur Aufdeckung von sexualisierter Gewalt“. Der Film, der seit Ende Oktober in den deutschen Kinos angelaufen ist, zeichne jedoch „ein stark verzerrtes Bild von Kardinal Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.“ Demnach sei es dem Papa emeritus immer nur um die Reinheit der Kirche und des Priestertums, nie um die Opfer gegangen. „Das ist eine eigenwillige und fehlerhafte Interpretation.“ Georg Gänswein, der Privatsekretär Benedikts, nannte den Film eine „Sauerei, ein Debakel“.

Regisseur erhebt schwere Vorwürfe

Christian Röhl, der Regisseur von „Verteidiger des Glaubens“, wundert diese Kritik. „Der Film hat überwiegend positive Resonanz erhalten – vor allem bei gläubigen Katholiken, die ihn sehr dankbar aufgenommen haben“, so Röhl, der nach eigenen Angaben eine „kirchenferne“ Erziehung genossen hat. Ratzinger sei Teil eines „fehlerhaften Systems“ gewesen. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk fundamentierte Röhl seine Position. Die heutige Krise in der Kirche könne man nicht verstehen, ohne sich mit Ratzinger zu beschäftigen. Er habe in seiner Funktion als Glaubens-

präfekt „den Boden bereitet für die vielen Krisen, die es heute gibt“. Als Glaubenspräfekt wie als Papst habe er das Böse nie im Inneren der Kirche gesehen, gefangen in einem „Dualismus“, der das Böse nur außerhalb kannte. Seine Bilanz falle verheerend aus: „Ratzinger hat versucht, das Evangelium zu verkünden und seine Kirche zu stärken und hat praktisch genau das Gegenteil bewirkt.“

Ratzinger blickte zurück auf die Urkirche

Der Ansicht, die weltabgewandte Theologie des mehrfachen Bestsellerautors hätte zum Aufkommen der Mißbrauchsskandale geführt, stellt sich Peter Seewald entgegen. Der ehemalige Spiegel-Journalist gilt als exzellenter Kenner Ratzingerscher Theologie – aus einem Interview mit dem damaligen Kardinal entstand 1996 das Buch „Salz der Erde“. Seewald arbeitete mit Ratzinger als Journalist jahrelang zusammen und führt seine Re-Konversion zum Katholizismus auf Ratzingers Wirken zurück.

Die Dokumentation bewertet er demnach als „unseriös“. In dem Film gebe es „keinen Hinweis auf seine Theologie, die Vernunft und Glauben versöhnen will; keinen Hinweis auf seine Beiträge zur Ökumene, zur Aussöhnung mit dem Judentum, zum interreligiösen Dialog.“ Alles, was nicht ins Bild passe, werde ausgeblendet, so Seewald in der Tagespost. Seewald äußerte außerdem, im Film werde nicht nur die Person Ratzingers, sondern auch „der tradierte katholische Glaube vorgeführt“.

Der letzte Vorwurf ist zentral, will man den tatsächlichen Grund für den neubelebten Streit um Benedikt verstehen. Von homosexuellen Publizisten wie Frédéric Martel („Sodom“) bis zu den Frauenrechtlern von „Maria 2.0“ wird der Mißbrauchsskandal als Aufhänger entdeckt. Von „Dialogversuchen“ kann hier keine Rede mehr sein – eher von Instrumentalisierung, um eine weitere konservative Bastion zu sprengen. Es ist der Mißbrauch des Mißbrauchsskandals.

Er fällt in die Zeit einer mehr als umstrittenen Synode, die mehr politische als theologische Inhalte vertritt. Die ökologische Agenda, die als letztes Bindeglied einer über die Kontinente greifenden Menschheit dienen soll, hat bereits die evangelische Kirche entstellt. Fruchtbarkeitsriten in den Vatikanischen Gärten gelten nun interkultureller Verständigung. Statt Jesus Christus und Mission sollen die „authentischen“ Indigenen nicht weiter vom Evangelium belastet werden – ein direkter Widerspruch zur allein selig machenden Vorstellung der römisch-katholischen Kirche. Letzteres, nämlich die bedingungslose „Verteidigung des Glaubens“, verzeiht die Presse dem Papa emeritus bis heute nicht. 

Statt der Zeitgeistigkeit nachzugeben rüstete er schon in den siebziger Jahren als Theologe für den Tag X. Heiliger Rest statt beliebiger Masse, von Christus geführter Glaube statt weltoffene Soziallehre; Ratzinger hat bereits in der Zeit des Zweiten Vatikanums wahrgenommen, daß die Katholische Kirche im 21. Jahrhundert eine andere sein würde.

Wie immer, wenn die Kirche nach Orientierung suchte, blickte auch Ratzinger zurück auf die Urkirche. Aber anders als seine Kollegen, die zurück zur propagierten Schlichtheit und Einfachheit wollten, deren Liturgie und deren Ruf nach einer Reform der Sexuallehre ebenso laut schallte wie der nach mehr „Lebenswirklichkeit“, erkannte Ratzinger, daß die Katholische Kirche nur noch als kleine, aber um so gläubigere Einheit überleben würde. Nicht das große Schiff der Kirche, das zu neuen Ufern aufbrach, sah er voraus – sondern ein kleines Schifflein Petri, das sicher durch die stürmische See der Zeit navigierte.

Das Ende der Volkskirchen, wie man sie aus dem Zeitalter der Massengesellschaft kannte, war für ihn unausweichlich. Die andere Wahl, nämlich die Evolution hin zu einer zeitgeistigen Großkirche, mußte zwangsläufig Christus verlieren. Ratzinger im Jahr 1970: „Die Zukunft der Kirche kann und wird auch heute nur aus der Kraft derer kommen, die tiefe Wurzeln haben und aus der reinen Fülle ihres Glaubens leben. Sie wird nicht von denen kommen, die nur Rezepte machen. Sie wird nicht von denen kommen, die nur dem jeweiligen Augenblick sich anpassen. (…) Es wird eine verinnerlichte Kirche sein, die nicht auf ihr politisches Mandat pocht und mit der Linken so wenig flirtet wie mit der Rechten. Sie wird es mühsam haben.“ 

Es sind solche Einsichten, die spätere Historiker prägen werden, wenn sie ihr eigenes Urteil über den Philosophen auf dem Petrusthron fällen. Ratzinger als radikaler Prophet kirchlicher Zukunft sprengt jede atheistische Filmdokumentation, jede homosexuelle Agenda und jeden feministischen Umsturzversuch selbsternannter Zeitgeistritter. Das macht ihn immer noch zu einer lebenden Provokation.