© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/19 / 08. November 2019

Wenn das Ganze das Unwahre ist
Das Werk von Stuart Jeffries über die Frankfurter Schule ist fehlerhaft und kann sich kaum aus dem Bannstrahl der Verehrung lösen
Konrad Adam

Ein Buch, das unter einem erborgten Titel über ein waberndes Phänomen berichtet, ist selten. Ein solches Buch hat der englische Journalist Stuart Jeffries über die Vor- und Nachgeschichte der Frankfurter Schule geschrieben; deswegen – und nur deswegen! – soll es hier besprochen werden. Der Titel, Grand Hotel Abgrund, stammt von Georg Lukács; ob es den Gegenstand, den Jeffries fast 500 Seiten lang umschreibt, in dieser Form gegeben hat, seit wann, vor allem aber auch: bis wann, darüber war sich selbst Max Horkheimer, das Schulhaupt der Frankfurter, nicht so recht im klaren. Seines Wissens habe sich der Begriff Frankfurter Schule erst nach dem Zweiten Weltkrieg eingebürgert, sie zu gründen oder gar zu stiften habe nie in seiner Absicht gelegen, gab er auf Anfrage zu bedenken. Jeffries ist weniger bescheiden, er greift zu – und ziemlich oft daneben.

„Mischung von Brutalität und Komplizentum“

Während der Lektüre des umfangreichen Buches mußte ich immer wieder an den dummen Witz von dem Erlösungsbedürftigen denken, der mit der Bahn an seinen Sehnsuchtsort, nach Frankfurt pilgert, vor dem Hauptbahnhof in ein Taxi steigt und den Chauffeur ersucht, ihn zur Frankfurter Schule zu fahren. Der läßt sich nicht lang bitten, kutschiert seinen Gast durch die halbe Stadt und setzt ihn schließlich vor irgendeinem Schulgebäude ab. So ähnlich stelle ich mir den Autor vor: gläubig, beflissen und ehrfurchtsvoll, allerdings nicht sehr kenntnisreich. Die bisher gründlichste Darstellung über Geschichte und Einfluß des Frankfurter Instituts, den Sammelband über „Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“, erschienen 1999 bei Campus, scheint Jeffries nicht zu kennen, zumindest erwähnt er sie nicht.

Jeffries ist Manichäer, für ihn zerfällt die Welt in Gut und Böse; was dem Autor die Darstellung erleichtert, dem Leser die Lektüre aber nicht. Wer von den seitenlang referierten Autoren, von Marx oder Weber, von Brecht, von Freud oder von Thomas Mann das eine oder andere gelesen hat, erfährt nicht viel Neues; wer nichts davon kennt, nicht viel Richtiges. Jeffries liebt es klar und einfach, die Geschichte wird auf Fortschritt oder Rückschritt gebürstet, für Ambivalenzen, wie sie Max Webers Entzauberungstheorien oder Freuds Kulturkritik durchziehen, hat er weder Sympathie noch Verständnis. Theodor Adorno wird zu Habermas’ Lehrer und zu Benjamins vertrautem Freund, Ernst Bloch, den die Frankfurter nicht ausstehen konnten, zum einflußreichen Ratgeber, Leo Löwenthal, den sie bewußt auf Abstand hielten, zum veritablen Mitglied. Während Erich Fromm, der seine Karriere in Amerika machte, ausführlich behandelt wird, taucht der in Deutschland einflußreiche Alexander Mitscherlich nirgendwo auf, selbst im Register fehlt sein Name. 

Die Welt wird von vielen schlechten, glücklicherweise aber auch von ein paar guten Menschen bewohnt, die frei sind von Ehrgeiz und Eitelkeit, von Opportunismus im Umgang mit Freunden und Verschlagenheit in der Abwehr von Konkurrenten – von Menschen wie Horkheimer, Adorno oder Herbert Marcuse also. Sie begegnen nicht nur mir und dir, sondern ganzen Nationen, ja der gesamten Menschheit als Ärzte, als Therapeuten, die um das Leiden wissen, seine Ursachen durchschauen und sich auf Besserung, auf Heilung, auf Erlösung verstehen. Eine Studentin hat von einem therapeutischen Binnenmilieu berichtet, in dem die Wunde des Nationalsozialismus zunächst aufgebrochen sei und dann behandelt wurde – aber davon erfährt man bei Jeffries nichts, schon gar nicht von den Folgen, die immer dann offenbar werden, wenn sich die Enkelschüler der Frankfurter auf die deutsche Geschichte berufen, bevor sie ihrem Gegner ins Gesicht schlagen.

Das Märchen von der Flaschenpost, die Horkheimer in Amerika aufgegeben haben will, um die verlotterten Europäer an ihre große Geschichte zu erinnern, wird brav nacherzählt. Warum er dann, nach Deutschland zurückgekehrt, die Flasche unter Verschluß hielt, erfährt der Leser aber nicht. Sie schloß so manches ein, was die amerikanische Schutzmacht hätte erzürnen können, und deshalb blieb der Korken drauf. Es war dieser taktische Umgang mit der Wahrheit, der Mitarbeiter wie Friedrich H. Tenbruck, Horkheimers ersten Assistenten, abstieß. Ähnlich reagierte der junge Ralf Dahrendorf, der das Institut verließ, nachdem er das Klima, „eine Mischung von Brutalität und Komplizentum“, kennengelernt hatte.

Denkmodell mit Molotowcocktail umgesetzt

Wenn das Ganze das Unwahre ist, wie Adorno in seiner Antwort an Hegel meinte, eröffnet das höchst unterschiedliche Wege, vom Irrtum in die Wahrheit zu gelangen. Einen davon sind die drei Studentinnen gegangen, die den alten Mann mit entblößter Brust umtanzten und schließlich vom Katheder trieben; K-Gruppen und Rote Zellen gingen einen anderen Weg. Jeffries beginnt seine Darstellung mit der Antwort, die Adorno gab, als die Kritische Theorie endlich praktisch geworden war: Er habe doch nur ein Denkmodell aufgestellt, wie habe er denn ahnen können, „daß Leute es mit Molotowcocktails verwirklichen wollen?“ 

Es wäre ganz gut gewesen, wenn er bei seinem lebenslangen Bemühen, der deutschen Vergangenheit auf die Spur zu kommen, genauer hingesehen und besser zugehört hätte. Hjalmar Schacht, Hitlers Reichsbankpräsident, hatte sich ja ganz ähnlich geäußert, als er, auf die Untaten der Nazis angesprochen, seiner Tischdame zur Antwort gab: Wir sind Verbrechern in die Hände gefallen, „wie hätte ich das ahnen können?“ Von der Theorie führen viele Wege in die Wirklichkeit, und es ist nicht die Theorie, die darüber entscheidet, welche von diesen Wegen praktisch sind.

Stuart Jeffries: Grand Hotel Abgrund. Die Frankfurter Schule und ihre Zeit. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2019, gebunden, 509 Seiten, 28 Euro