© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/19 / 15. November 2019

Relevant oder nicht, das ist hier die Frage
Verfassungsschutz: Ein Gutachten entlastet die AfD
Christian Vollradt

Diesen einen Satz betont Jörg Meuthen besonders: Die AfD wolle „die Demokratie stärken, nicht schwächen“, sagt ihr Bundesvorsitzender, als er am Donnerstag vergangener Woche in Berlin gemeinsam mit seinem Parteifreund Roland Hartwig, dem Leiter der parteiinternen Arbeitsgruppe „Verfassungsschutz“, deren erste Ermittlungsergebnisse vorstellt. Werde die AfD außerhalb des demokratischen Konsenses gestellt, treffe ihn das persönlich, beteuert Meuthen.  

Im Januar hatte der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, offiziell mitgeteilt, seine Behörde stufe die AfD als sogenannten „Prüffall“, und deren Nachwuchsorganisation Junge Alternative sowie den „Flügel“ jeweils als „Verdachtsfall“ ein. Auf Antrag der AfD hatte das Verwaltungsgericht in Köln dem Bundesamt im Februar per einstweiliger Anordnung untersagt zu verbreiten, die Partei werde als Prüffall bearbeitet.

Der von der Partei beauftragte Staats- und Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek kommt in seiner Untersuchung der Vorwürfe der Behörde zu dem Ergebnis, daß „weniger als 20 Prozent der vom Verfassungsschutz als relevant“ eingestuften Aussagen der AfD tatsächlich „verfassungsschutzrechtlich relevant“ zu bewerten seien. „Über 80 Prozent der Bewertungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz halte ich für falsch“, sagte der emeritierte Professor für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg.

„Nicht nach moralischen Maßstäben bewerten“

Der Verfassungsschutz hatte in einem Gutachten 470 Meinungsäußerungen von Mitgliedern der AfD ausgewertet und 400 davon als unvereinbar mit mindestens einem Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung eingestuft. Neben den sechs Zitaten, die auch nach Einschätzung von Murswiek verfassungsschutzrechtlich relevant sind und eine inakzeptable Grenzüberschreitung darstellen, gebe es eine „erhebliche Anzahl“ – etwa hundert bis 150 – Äußerungen, die mehrdeutig seien und für die der Jurist eine Klarstellung durch die Partei empfiehlt. Namen werden unter Verweis auf den Datenschutz nicht genannt.

Der von der AfD beauftragte Gutachter wies darauf hin, daß auch die von ihm als relevant eingestuften Aussagen „nicht ohne weiteres als Anhaltspunkt für eine verfassungsfeindliche Zielsetzung angesehen werden können.“ Wenn jemand mit einer Äußerung gegen ein Schutzgut der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verstoße, bedeute dies nicht automatisch, daß er dieses Schutzgut auch abschaffen wolle. Murswiek kritisierte in diesem Zusammenhang, der Verfassungsschutz mache den methodischen Fehler, „den Unterschied zwischen tatsächlichen Anhaltspunkten für eine verfassungsfeindliche Zielsetzung und inhaltlich mit einem Verfassungsgrundsatz unvereinbaren Äußerungen zu verwischen“.

Die Einordnung einer Partei als extremistisch dürfe das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht „auf der Basis politischer Bewertungen vornehmen“, betonte der Staatsrechtler. Die Behörde könne eine Partei nur dann beobachten, „wenn es hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür gibt, daß sie verfassungsfeindliche Ziele verfolgt“, sprich die freiheitliche demokratische Grundordnung oder eines ihrer Prinzipien zu beseitigen.

Keine Rolle dürfe dabei spielen, ob Aussagen von Parteifunktionären anderen als „rhetorisch radikal, politisch unkorrekt oder empörend“ vorkämen, stellte Murswiek fest. Es sei nicht Aufgabe des Verfassungsschutzes, „Parteien nach politischen oder moralischen Gesichtspunkten zu bewerten“. Man gewinne den Eindruck, der Verfassungsschutz habe nicht als objektive Behörde unvoreingenommen geprüft, sondern, „daß es ihm darum ging, die AfD zu diskreditieren“ und die etablierten Parteien (anstelle der Verfassung) zu schützen. Er kritisierte darüber hinaus, das Bundesamt habe „anscheinend nur nach belastenden Äußerungen gesucht“ und Entlastendes nicht ermittelt oder berücksichtigt. 

Es gebe, so resümierte Parteichef Meuthen, leider immer wieder Wortmeldungen, „die so besser nicht geschehen wären“. Man arbeite daran, versicherte er. Das bedeute, daß die Betreffenden von der Partei darauf hingewiesen würden; im äußersten Fall leite man ein Parteiausschlußverfahren ein. Von einem solchen ist beispielsweise der baden-württembergische Landtagsabgeordnete Stefan Räpple betroffen; er sorgte jüngst erneut für Empörung, als er die rechtsextreme Terrorzelle NSU als „Fake-NSU“ bezeichnete. Der AfD-Landesvorstand mißbilligte die Äußerungen. Sie seien „ein weiterer Grund, Herrn Räpple aus unserer rechtsstaatlichen Bürgerpartei auszuschließen“, teilte das Gremium mit.

Hartwig und Meuthen versicherten vergangene Woche in Berlin, eine „große Mehrheit“ in der AfD stehe hinter der Arbeitsgruppe „Verfassungsschutz“. Er spüre „einen großen Rückhalt für den Ansatz zur Mäßigung“, sagte Meuthen. 

Die These, die Arbeit des Verfassungsschutzes habe sich durch einen Paradigmenwechsel geändert, weil die Bekämpfung von Rassismus in den vergangenen Jahrzehnten politisch einen höheren Stellenwert bekommen habe (JF 7/19), teilt der Rechtswissenschaftler Murswiek nicht. „Wenn man die Verfassungsschutzberichte der letzten 30 Jahre durchblättert, wird man kaum zu dem Ergebnis kommen können, daß sich hinsichtlich der Bewertung von Meinungsäußerungen zu den Themen Ausländer, Migration, Islam Wesentliches geändert habe“, sagte er der JUNGEN FREIHEIT. Auch in der Rechtsprechung von Karlsruhe sehe er „keine große Richtungsänderung“, gibt sich Murswiek zuversichtlich.