© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/19 / 15. November 2019

Gemeinsam unzufrieden
Kompromiß bei der Grundrente: Die Koalition hangelt sich über die nächste Klippe
Paul Rosen

Um die Koalition mit der SPD und gar die Sozialdemokraten selbst zu retten, geben CDU und CSU wirklich alles. Indem sie jedem Wunsch der Genossen unverzüglich nachkommen. So gab es auch beim Thema Grundrente für die SPD schon lange vor dem 1. Advent Bescherung. Der Preis, den die Union für das überdimensionierte Geschenk zu zahlen hat, ist unermeßlich hoch: Jetzt sind auch die letzten Grundwerte über Bord geworfen worden – bei nur drei Gegenstimmen im CDU-Parteipräsidium, was alles über den Zustand dieser desorientierten Führung aussagt. 

Um Inhalte ging es längst nicht mehr. Vor dem Hintergrund des SPD-Führungsstreits mit Urabstimmung über das beste Führungsduo und einem Parteitag der mit dem Untergang ringenden Sozialdemokraten mußte aus Sicht der Union ein Kompromiß gefunden werden, der die SPD stabilisiert und verhindert, daß sie völlig im Schatten der vor Kraft kaum noch laufen könnenden Grünen verschwindet. Das geht aus Sicht der CDU-Führung nur durch Unterstützung von Finanzminister Olaf Scholz, von dem man sich erhofft, daß ihm der Vizekanzlerposten in der Goßen Koalition besser gefällt als eine nervende Liaison mit Grünen und Linken. Das Feindbild für die Union ist Norbert Walter-Borjans, der frühere nordrhein-westfälische Finanzminister, der aus seiner Vorliebe für ein „breites Bündnis“ keinen Hehl macht. Scholz muß aus dieser Sicht SPD-Chef werden, um den für das rot-grüne Modell stehenden Walter-Borjans zu verhindern. Walter-Borjans steht auch unter Verdacht, die Koalition lieber heute als morgen platzen zu lassen. 

Daher ist schon seit Monaten zu beobachten, wie die Union alle ihre Prinzipien in der Steuerpolitik aufgibt, um Scholz nicht zu schwächen. So wurde die Senkung des Solidaritätszuschlags eins zu eins nach Scholz’ Vorstellungen umgesetzt. Obwohl die Staatskassen voll sind, erfolgt eine erste Senkung erst 2021 – und dann noch nicht einmal für den breiten Mittelstand. Die Abzugsfähigkeit von Verlusten aus bestimmten fehlgeschlagenen Kapitalanlagen vom Einkommen mag Scholz nicht. Also sind sich Beobachter sicher, die Union werde nach einer Schamfrist umkippen und den Grundsatz über Bord werfen, daß derjenige, der Gewinne versteuern muß, im Gegenzug Verluste steuermindernd gelten machen kann. 

Abschiedserklärung an die Partei der Marktwirtschaft 

Bis zur Grundrente ohne Bedüftigkeitsprüfung war es vor diesem Hintergrund nur noch ein kleiner Schritt, den die machtbesessene Union zu gehen bereit war, um nicht plötzlich mit Koalitionsbruch und Neuwahlwünschen konfrontiert zu werden. „Es ist halt ein Kompromiß. Und das müssen beide Seiten wissen“, verteidigte Fraktionschef Ralph Brinkhaus die Einigung. 

Einer der letzten Kritiker, der Chef der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, Carsten Linnemann, gab eine Art Abschiedserklärung der einstigen Marktwirtschaftspartei CDU ab. Der Verzicht auf die Bedürftigkeitsprüfung für die Grundrente und damit das Abgehen vom Koaltionsvertrag bedeute eine Abkehr von dem Prinzip, daß Sozialleistungen nur erhält, wer sie wirklich braucht. Den Verzicht auf die Vermögensprüfung bei der Grundrente bezeichnete Linnemann als Dammbruch mit ungeahnten Auswirkungen auch auf andere Transfersysteme. In der Tat wird die strikte Trennung zwischen Sozialleistungen, die die erhalten, die sich nicht selbst helfen können, und der Altersversorgung, bei der derjenige mehr bekommt, der mehr geleistet hat, aufgehoben. Linnemann hat natürlich recht, aber die von der Soziallobby, Kirchen, Gewerkschaften und Parteien bis weit in die CDU hinein propagierte Abkehr von der Leistungsgesellschaft und hin zu einer „Rente für alle“ unabhängig von der Lebensleistung ist nicht mehr aufzuhalten. 

Mit der Grundrente wird es werden wie mit der Rente ab 63 nach 40 Berufsjahren oder früheren Frühverrentungsprogrammen: Erst wurden die Fallzahlen als gering erachtet, und dann war man überrascht, welch großer Andrang herrschte. So auch hier: Angesichts der Einkommensprüfung mit Kapitaleinkünften soll es statt drei nur noch 1,5 Millionen Anspruchsberechtigte für die Grundrente geben. Das Einkommen aus Kapital sinkt jedoch drastisch: Wer vor zehn Jahren aus einer Million Euro 40.000 Euro Zinsen im Jahr kassierte, erwirtschaftet bald wegen der Niedrigzinsen vielleicht noch 400 bis 500 Euro – und wird grundrentenfähig. 

Die übrigen Beschlüsse der Koalition sind in den Augen ihrer Kritiker unverständlich oder unausgegoren. Die Verbesserungen bei der Mitarbeiterbeteiligung in Unternehmen werden durch die neue Aktiensteuer – die die Grundrente finanzieren soll – konterkariert. Zuletzt wurden die von hohen, rückwirkend erhobenen Krankenkassenbeiträgen heimgesuchten Betriebsrentenbezieher (JF 23/19) hofiert: Ihnen sollen die Beiträge um eine Milliarde Euro im Jahr gesenkt werden, nachdem die Regierung zuvor 40 Milliarden von ihnen kassiert hat. 

Die Grundrenten-Einigung wird am zähen Zustand der Großen Koalition nichts Wesentliches ändern. Zur Rettung der dysfunktionalen SPD eignet sie sich nicht. Zur Rettung der Koalition jedoch – wegen der neuen Verbitterungen bei Teilen der Christdemokraten – sicherlich auch nicht.