© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/19 / 15. November 2019

Kein Frieden auf dem Weißen Hügel
Syrien: Durch die türkische Militäroffensive im Norden und den US-Rückzug wittern die Islamisten Morgenluft
Marc Zoellner

Es war der zweite folgenschwere Anschlag binnen acht Tagen: Erneut explodierte am Sonntag eine Autobombe inmitten Tal Abjads, einer Kleinstadt an der syrisch-türkischen Grenze mit arabisch-turkmenischer Mehrheit. Die Detonation tötete acht Zivilisten noch an Ort und Stelle. Zwanzig weitere zum Teil schwer Verletzte konnten bislang aus den Trümmern geborgen werden. Bereits am 2. November hatte ein ferngezündeter Sprengsatz auf dem Markt 13 Opfer gefordert. Von einem „wiederholten Massaker“ sprach das türkische Verteidigungsministerium und bezichtigte die kurdische PKK sowie deren mutmaßlichen syrischen Zweig, die Volksverteidigungseinheiten (YPG), der Verantwortung an beiden Anschlägen.

Tal Abjad war eine der ersten kurdisch kontrollierten Städte, die von der Türkei im Rahmen ihrer seit dem 9. Oktober laufenden „Operation Friedensbrunnen“ – der türkischen Militäroffensive in den syrischen Kurdengebieten – erobert worden sind. Nicht ohne Zuspruch der hiesigen Bevölkerung: Den vorrangig aus der Türkei sowie dem Osten Iraks stammenden, in Tal Abjad stationierten kurdischen Milizionären wurden von seiten der arabischen Bevölkerung immer wieder gewaltsame ethnische Säuberungen vorgeworfen, um die Siedlung sowie die umliegenden Gemeinden zu kurdisieren. Tatsächlich benannte die YPG die Stadt nach ihrer erfolgreichen Offensive gegen den radikalislamischen IS im Juni 2015 in Girê Spî (kurdisch: Weißer Hügel) um. Mit dem türkischen Einmarsch flohen die meisten kurdischen Einwohner – aus Angst vor Racheakten ihrer Nachbarn.

„Wir sind besorgt über die Kriegsverbrechen“

Seit vier Wochen schweigen die Waffen – offiziell. Doch die Anzahl der Gefallenen beträgt mittlerweile über 1.100, davon 900 YPG-Anhänger. Eine Viertelmillion Zivilisten befinden sich weiter auf der Flucht vor dem Kampfgeschehen. Das Chaos nutzen Islamisten: Hunderte Ex-IS-Kämpfer sind aus kurdischen Gefangenenlagern ausgebrochen und in sichere Verstecke geflüchtet. In Suluk (Salul), zwanzig Kilometer südöstlich von Tal Abjad, sowie in der Stadt Azaz (Ezaz) nahe der Verwaltungsmetropole Aleppo, zündeten Kalifatsanhänger Bomben gegen Zivilisten. In Deir ez-Zor (Deyrizor) erschossen IS-Terroristen am Montag den armenischen Priester Hanna Ibrahim sowie dessen Vater. Und in Tal Abjad selbst verwüsteten islamistische Verbündete der türkischen Armee die armenische Gemeindekirche. Wiederholt griffen kurdische Jugendliche die türkisch-russischen Militärpatrouillen jenseits des türkischen Sicherheitskorridors mit Steinen und Flaschen an.

Auch die USA zeigen sich der neueren Spannungen im heftig umkämpften Norden des Bürgerkriegslands bewußt. „Manche Dinge, die wir sehen, sind sehr beunruhigend“, erklärte US-Sicherheitsberater Robert O’Brien am Sonntag in einem CBS-Interview. Er kritisierte die von der Türkei unterstützten Milizen: „Wir sind besorgt über Kriegsverbrechen und beobachten den Sachverhalt sehr genau.“ Ein angekündigter genereller Truppenabzug soll auch in den kommenden Monaten nicht stattfinden.

„Es gibt immer noch IS-Kämpfer in der Region“, bestätigte Mark Milley, Generalstabschef der US-Streitkräfte, den Verbleib von über 500 US-Soldaten in der Region. „Denn sofern der Druck auf diese Gruppierung nicht aufrecht erhalten wird, ist es sehr wahrscheinlich, daß der Islamische Staat wiederaufersteht.“ Überraschend schnell hatte sich die IS-Terrorgruppe, deren Anführer Abu Bakr al-Baghdadi Ende Oktober von einem US-Spezialkommando liquidiert worden war, mit der Ernennung Abi Ibrahim al-Haschimis zu dessen Nachfolger neu strukturieren können.

Für Rußland, das die meisten der von Washington verlassenen Militärbasen in den Kurdengebieten gemeinsam mit Einheiten des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad neu bezogen hat, ist der Verbleib weiterer US-Truppen in Syrien keine Option. Was die USA in Nordsyrien betrieben, sei „der Versuch, Syrien auszurauben und seine Ölfelder zu übernehmen“, erklärte Außenminister Sergei Lawrow am Montag. „Wir bestehen weiter darauf, daß die syrische Armee das gesamte Staatsgebiet so rasch wie möglich in Besitz nimmt. Nur dadurch können dem Terrorismus ein Ende gesetzt sowie eine endgültige politische Vereinbarung getroffen werden.“

Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit:  civaka-azad.org

Statistiken der Weltbank zu Syrien:  data.worldbank.org