© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/19 / 15. November 2019

Angst um den sonnigen Lebensabend
Rentenversicherung: In den USA ist die umlagefinanzierte „Social Security“ der größte Ausgabenposten
Elliot Neaman

Während in Deutschland nach der Finanzkrise 2008 der staatliche Schuldenberg durch die Banken- und Euro-Rettungen sowie die diversen Konjukturpakete zunächst auf 82,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) anstieg, waren es – dank sprudelnder Steuereinnahmen und der EZB-Nullzinspolitik – 2018 noch 61,9 Prozent. In den USA sind die Staatsschulden seit der Ära von George W. Bush hingegen völlig außer Kontrolle geraten: Waren es 2008 noch 74 Prozent, sind es heute 106 Prozent des BIP – klar über dem Niveau der Euro-Defizitsünder Spanien und Frankreich. Allein unter Donald Trump ist das US-Defizit um drei auf 23 Billionen Dollar geklettert – selbst inflationsbereinigt ein Rekordwert, der nur während des Zweiten Weltkrieges überschritten wurde.

982 Milliarden Dollar für 64 Millionen US-Rentner

Wohin fließen diese Riesenbeträge? In den Wehretat, wie viele der weltgrößten Militärmacht unterstellen? Nein, Pentagon & Co. erhielten vergangenes Budgetjahr 623 Milliarden Dollar – nur 15 Prozent der Gesamtausgaben von 4,1 Billionen Dollar oder 3,1 Prozent des BIP. Nach Angaben des Congressional Budget Office (CBO) wird jährlich etwa die Hälfte des US-Staatshaushalts für Sozialleistungen aufgebracht. Insbesondere sind hier die Gesundheitsfürsorge sowie die Arbeitslosen- und Rentenversicherung zu nennen, wobei der letztgenannte Posten mit 982 Milliarden Dollar am heftigsten zu Buche schlägt.

US-Finanzexperten warnen seit Jahren, daß die 1935 unter Franklin D. Roosevelt eingeführte umlagefinanzierte Rentenkasse (Social Security) ab 2035 zahlungsunfähig wird. Die Hauptgründe sind auch in Deutschland hinlänglich bekannt: eine alternde Bevölkerung, deren Rentenansprüche von den Beiträgen der jüngeren Arbeitnehmer nicht mehr gedeckt werden können. Präsident Trump will an das brisante Thema nicht heran, um seine Wiederwahl nicht zusätzlich zu gefährden. Im Oktober präsentierte er medienwirksam im Rentnerparadies Florida sein Dekret zum Schutz der Krankenversicherung für Rentner (Medicare). Und Gouverneur Matt Bevin wurde nun auch deshalb in der Trump-Hochburg Kentucky abgewählt, weil der Republikaner die Krankenfürsorge für Geringverdiener (Medicaid) zusammenstreichen wollte.

Die aussichtsreichsten Anwärter auf die demokratische Präsidentschaftskandidatur 2020 planen sogar eine weitere Erhöhung der staatlichen Rentenausgaben. Derzeit erhält ein Invalide 1.236 und ein Rentner ab 67 Jahren im Schnitt 1.471 Dollar. Elizabeth Warren, seit 2013 Senatorin für Massachusetts, will die Renten für die heutigen 64 Millionen Rentner und künftige Anspruchsberechtigte um 200 Dollar erhöhen und zu diesem Zweck eine Vermögenssteuer für die reichsten zwei Prozent der US-Bevölkerung einführen. Entsprechend einem von den Demokraten eingebrachten Gesetzesvorschlag will sie die – hälftig von Arbeitnehmer und Arbeitgeber – zu zahlenden Beitragssätze von 12,4 auf 14,8 Prozent erhöhen und die Beitragsbemessungsgrenze für Gutverdiener von 132.900 auf 250.000 Dollar pro Jahr anheben. Zudem verspricht die 70jährige eine Erhöhung der Sozialleistungen für Niedriglohnbezieher, Frauen, Behinderte, Angestellte im öffentlichen Sektor und Angehörige von Minderheiten. Auf ihrer Wahlkampf-Website steht ein Rechner zur Verfügung, mit dem die Wähler ermitteln können, wie sich diese Änderungen im einzelnen auf ihre Finanzen auswirken würden.

Ex-Vizepräsident Joe Biden will ebenfalls die Steuerbelastung für Vermögende erhöhen und eine Mindestrente auf dem Niveau von 25 Prozent über der staatlichen Armutsgrenze (25.000 Dollar für eine vierköpfige Familie) für Arbeitnehmer einführen, die mindestens 30 Jahre lang in die US-Rentenkasse eingezahlt haben. Zudem sieht sein Wahlkampfprogramm eine Erhöhung der Hinterbliebenenrente um 20 Prozent vor.

Mehr Umverteilung über höhere Vermögensteuern?

Der teuerste Rentenplan kommt von Bernie Sanders. Die Vorhaben des 78jährigen „democratic Socialist“ und Senators aus Vermont umfassen verschiedene neue Leistungen für über 55jährige – unter anderem sollen Niedrigverdiener mit einem Jahreseinkommen unter 16.000 Dollar einen monatlichen Zuschuß von 1.300 Dollar erhalten. Sanders will die aktuelle Beitragsregelung beibehalten, gleichzeitig aber einen Zusatzbeitrag von zwölf Prozent für Jahreseinkommen ab 250.000 Dollar einführen. Für Einkommen aus Investitionen ab 200.000 Dollar sowie gemeinsam veranlagte Einkommen von Ehepaaren ab 250.000 Dollar soll ebenfalls eine Abgabe von 6,2 Prozent erhoben werden.

Zur „Reichensteuer“ zum Stopfen des Lochs in der Rentenkasse kommen Wahlkampfversprechen zur Tilgung von Schulden fürs Studium, die Abschaffung der Studiengebühren an staatlichen Universitäten, die Senkung der Rezeptgebühren sowie die Einführung einer staatlichen Krankenversicherung für alle („Medicare for All“). So populär die Idee, die Reichen zur Kasse zu bitten, auf Wahlveranstaltungen sein mag, haben Meinungsumfragen gezeigt, daß selbst viele demokratische Wähler Zweifel an ihrer Durchsetzungsfähigkeit haben.

Wie der Wall Street Journal-Kolumnist Andy Kessler kürzlich anmerkte, ist die Vorstellung von einer reichen Oberschicht, deren Angehörige sich wie Da­gobert Duck genüßlich in einer Schatzkammer voller Goldmünzen wälzen, eine groteske Verzerrung der Realität. So würde eine Reichensteuer vermutlich vor allem cleveren Steuerberatern und Rechtsanwälten zugute kommen, die bei der Steuervermeidung mit Rat und Tat zur Seite stehen. Zudem häufen Gutverdienende meist keine Geldvorräte an, sondern investieren ihr Vermögen in Schuldtitel oder Aktien und somit in die Schaffung neuer Arbeitsplätze.

Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 hat sich auch in den USA eine populistische Wut auf die „globalen Eliten“ breitgemacht, die in der Forderung nach einfachen Lösungen für komplexe Probleme zum Ausdruck kommt. So ist die Reichensteuer eine oberflächlich attraktive, jedoch unausgegorene Lösung für die komplizierten Probleme der Einkommensungleichheit und der stagnierenden Lohnentwicklung.

Kurzfristig spült sie vielleicht Geld in die Staatskassen, das dann den ärmeren Wählerschichten zugute kommt. Langfristig schadet sie jedoch der Volkswirtschaft und macht damit alle ärmer. Demokratischen Wahlkampfversprechen von einem „Green New Deal“ zum Trotz sind die Schuldenberge in sämtlichen Sektoren eine Realität, die sich nur mit wirtschaftspolitischer Klarsicht statt durch populistisches Wunschdenken bewältigen läßt.






Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt europäische Geschichte an der University of San Francisco.

Eckwerte der US-Rentenkasse:  www.ssa.gov/





Lage der Rentenkasse in Deutschland

Voriges Jahr nahm die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) in Deutschland 312,3 Milliarden Euro ein. Davon wurden die Alters-, Hinterbliebenen- und Invalidenrenten für die derzeit 21 Millionen Rentner sowie Zuschüsse zur Krankenversicherung und Rehamaßnahmen bezahlt. Die Verwaltungskosten betrugen vier Milliarden Euro (1,3 Prozent). Die GRV-Invalidenrente lag bei 735 Euro, die Altersrente im Schnitt bei 1.219 Euro. Spitzenreiter waren das Saarland (1.343) und NRW (1.323), Schlußlichter Sachsen-Anhalt (1.110) und Thüringen (1.102). Nur 76 Prozent des GRV-Budgets stammten aus Versicherten- und Arbeitgeberbeiträgen. 90,2 Milliarden kamen aus dem Steueraufkommen des Bundes. Wenn der GRV-Beitragssatz von 18,6 Prozent bei steigender Rentnerzahl nicht stark ansteigen soll, müßte der Bundeszuschuß erhöht werden. Das würde höhere Steuern oder Ausgabensenkungen an anderer Stelle erfordern – eine Kreditfinanzierung verbietet die grundgesetzliche „Schuldenbremse“ (JF 45/19).

„Rentenatlas 2019“:  deutsche-rentenversicherung.de