© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/19 / 15. November 2019

Die Aufnahmebereitschaft sinkt
Vor dem ersten globalen Flüchtlingsforum des UNHCR in Genf: Der weltweite Migrationsdruck nimmt zu / Für die Aufnahmeländer steigen die Kosten
Paul Leonhard

Ungarn, dessen Bevölkerung jahrhundertelang unter dem osmanischen Joch gelitten hat, unterstützt offen die von den anderen EU-Ländern kritisierte Militäroffensive der Türkei gegen die Kurdenregion in Syrien. Es sei „im nationalen Interesse Ungarns“, daß Ankara die Migrationsfrage in Richtung Syrien löse und nicht in Richtung Europa, erklärte der ungarische Außenminister Péter Szijjártó: „Das ungarische nationale Interesse diktiert es, daß wir es vermeiden, daß mehrere hunderttausend oder gar Millionen illegale Migranten an der Südgrenze Ungarns auftauchen.“

Der größte Unsicherheitsfaktor für die Magyaren ist dabei Deutschland, dessen politischer Kurs aus Sicht der Osteuropäer immer unberechenbarer wird. Während selbst ehemals konservative Parteien sich von selbsternannten Klimaschützern immer neue Gebote und Verbote für die Bevölkerung diktieren lassen, wandern weiterhin Zehntausende Asylanten und Bürgerkriegsflüchtlinge ein, wo sie für einen ganz anderen Klimawandel sorgen, als ihn die „Fridays for Future“-Jugendlichen befürchten.

Deutschland steht seit Merkels „Politik des kopflosen Herzens“ in der Welt weitgehend isoliert da. Obwohl sich die Staatengemeinschaft im Dezember 2018 gegen den Widerstand großer Teile ihrer Bevölkerungen zu einem Pakt für Flüchtlinge (JF 48/18) und damit zum internationalen Flüchtlingsschutz bekannt hat, ist – wie es vorhersehbar war – die Bereitschaft zur dauerhaften Aufnahme von Fremden weltweit gesunken. Das geht aus einer vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geförderten Studie der Forschungsgruppe Globale Fragen hervor.

Allen internationalen Beteuerungen zum Trotz gibt es bei der Suche nach einem praktikablen Modus der Verantwortungsteilung für die Flüchtlinge keinen Fortschritt. Mit Ausnahme Deutschlands sind die Hauptaufnahmeländer ausschließlich Schwellen- und Entwicklungsländer. Statt dafür wenigstens von den anderen Staaten finanziell entlastet zu werden, ist die Bundesrepublik nach den USA der zweitgrößte Finanzier der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit. Daß es dafür beim ersten globalen Flüchtlingsforum der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR, das die Türkei, Deutschland, Äthiopien und Costa Rica gemeinsam am 17./18. Dezember in Genf ausrichten, Beifall erhalten wird, ist nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Deutschland dürfte erneut zur Kasse gebeten werden, wenn Vertreter von Regierungen, internationalen Organisationen und Hilfsprojekten sowie Flüchtlingsvertreter zusammenkommen, um darüber zu diskutieren, warum es zu wenig Hilfe für Flüchtlinge und Vertriebene gebe, warum es angeblich nicht gelinge, diesen Menschengruppen besseren Schutz, Arbeitsperspektiven und Bildungszugänge zu bieten.

Die eingesetzten Gelder  wirken nicht nachhaltig

Tatsächlich schlägt eine vom deutschen Steuerzahler finanzierte Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (Berlin) genau das vor: Um zusätzliche Gelder für die Flüchtlingshilfe zu generieren, könne Deutschland mit gutem Beispiel vorangehen und seine Leistungen auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens erhöhen, wie es die Staaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) als Ziel beschlossen haben.

Aktuell hat Deutschland 2018 insgesamt 21 Milliarden Euro, was 0,61 Prozent des Bruttonationaleinkommens entspricht, für humanitäre und Entwicklungshilfe ausgegeben. 2016 stellte die Bundesregierung etwa 6,5, 2017 mehr als 7,3, 2018 und 2019 jeweils 6,9 Milliarden Euro allein für Fluchtursachenbekämpfung bereit. Da die Zahl der Flüchtlinge nach ­UNHCR-Angaben 2018 mit 70,8 Millionen Menschen plus 3,5 Millionen Asylsuchender nicht nur historische Höchstwerte erreicht hat, sondern auch weiter steigt, liege es im deutschen Interesse, international nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten zu suchen, schreiben die Autoren der Studie. Schließlich gehöre Deutschland mittlerweile „als einziges einkommensstarkes Land zu den Hauptaufnahmeländern von Flüchtlingen, was der deutschen Politik nicht nur internationale Aufmerksamkeit, sondern auch besondere Legitimität verleiht“.

Bereits heute reicht das Geld nicht. Nach Angaben des OECD-Entwicklungsausschusses wurden zwischen 2015 und 2017 allein für die Unterstützung von Menschen auf der Flucht und ihrer Aufnahmegemeinden insgesamt etwa 26 Milliarden US-Dollar aufgewendet. Der offizielle Mittelbedarf des UNHCR von 8,2 Milliarden US-Dollar wurde im vergangenen Jahr von den Geberländern nur zu 57 Prozent (4,7 Milliarden Dollar) gedeckt. Sollten die USA, wie angekündigt, ihre Zuwendungen kürzen, wächst die Finanzierungslücke weiter.

Auch hier sollte Berlin eine Führungsrolle übernehmen – aus Sicht der Studie. Da die Hilfsorganisationen nur einen Teil der benötigten Gelder einzuwerben vermögen, sollte Deutschland als zweitgrößter Geber der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit international für eine Erhöhung der Finanzmittel und eine Steigerung der Wirksamkeit werben. Die Bundesregierung sollte die Erfahrungen mit unterschiedlichen Finanzierungsansätzen in der neuen „Fachkommission Fluchtursachen“ sammeln und sich beim Globalen Flüchtlingsforum im Dezember für die Erarbeitung eines Zielkatalogs zu den verschiedenen Finanzierungsquellen einsetzen.

Dazu kommt, daß die bisherige Flüchtlingshilfe weder die Eigenständigkeit der Empfänger fördert, noch die entwickelten Finanzierungsinstrumente nachhaltig wirken. Daß die Instrumente und Institutionen, mit denen die westliche Welt auf die Herausforderung von fast 70,8 Millionen Flüchtlingen reagiert, hoffnungslos veraltet sind, haben Alexander Betts und Paul Collier bereits 2017 in ihrem von der deutschen Politik leider viel zu wenig beachteten Buch „Gestrandet. Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet – und was jetzt zu tun ist“ (JF 8/18) genau analysiert: Das Flüchtlingshilfswerk der UN mußte scheitern, weil seine Methoden für die zeitweilige Versorgung Verfolgter gedacht war, aber nicht auf eine permanente Massenflucht.

Flüchtlinge in Stellen zu vermitteln gelang kaum

Statt alte Formulierungen neu zu interpretieren, müsse durch die Weltgemeinschaft ein neues funktionstüchtiges System aufgebaut werden. Vor allem aber fordern die beiden Professoren ein Umdenken bei der Ethik, beim Zufluchtsort, bei der Hilfe, bei Nachkriegsphasen, beim Flüchtlingsregime. Die Flüchtlinge müßten „in die Lage versetzt werden, in der Nähe ihrer Heimatländer zu bleiben, dort rasch wieder für sich selbst sorgen, um letztlich wieder nach Hause zurückkehren zu können, wenn Frieden herrscht“.

Angesichts der derzeitigen Ineffizienz ist es kein Wunder, daß weltweit unter den Staaten die Bereitschaft abnimmt, sich an der Lastenteilung zu beteiligen und immer neue Flüchtlinge aus fremden Kulturen für eine ungewisse Zeitdauer aufzunehmen. Denn was hat sich seit Unterzeichnung des UN-Pakts für Flüchtlinge im Dezember getan? Viele Industriestaaten haben ihre nationalen Asylgesetze verschärft und bemühen sich, die Flüchtlingszahl in ihren Ländern zu reduzieren und neue Zuzüge durch Kontrollen an den Außengrenzen und Vereinbarungen mit Transitländern zu reduzieren. Die Befürworter dieser härteren Politik verweisen dabei darauf, daß das Asylrecht zu Einwanderungszwecken mißbraucht wird und die Aufnahme von Geflüchteten zu untragbaren ökonomischen und gesellschaftlichen Belastungen für die Empfängerländer führt.

Im übrigen scheitere eine lokale Integration von Flüchtlingen häufig bereits daran, daß sie keine Arbeitserlaubnis erhielten, heißt es in der SWP-Studie. Eine Lösung wäre es, Unternehmen in Sonderwirtschaftszonen anzusiedeln, in denen Flüchtlinge beschäftigt werden dürfen. Im Gegenzug sollen die betreffenden Firmen Handelserleichterungen erhalten. Dieser Ansatz wurde in Jordanien, im Libanon und in Äthiopien getestet, bisher allerdings nur mit begrenztem Erfolg. Am deutlichsten wurden die Probleme im Rahmen des Pilotprojektes „Jordan Compact“, bei dem unter anderem für syrische Flüchtlinge und jordanische Staatsbürger 200.000 Arbeitsplätze entstehen sollten: Letztlich fanden sich aber kaum Menschen, die dem Anforderungsprofil der textilproduzierenden Unternehmen entsprachen.

Warum die Hilfe für Flüchtlinge und Vertriebene so langsam vorangehe, beschäftigt auch das Bildungswerk der Zentraleuropäischen Jesuitenprovinz mit Sitz in Genf, Jesuit Worldwide Learning (JWL), das bei den Vorbereitungen des Flüchtlingsforums als aktiver Partner des UNHCR agiert. In dessen Auftrag führt das Bildungswerk kurzfristig eine Feldforschung zum Thema Hochschulzugang für Flüchtlinge durch. Dafür werden in den JWL-Lernzentren in Afghanistan, Irak, Jordanien, Kenia und Malawi verschiedene Workshops veranstaltet, um die Hindernisse zur Hochschulbildung zu benennen sowie praktikable Lösungsansätze auf lokaler und internationaler Ebene zu erarbeiten, wie Pater Pascal Meyer SJ vom Bildungswerk mitteilt. Der Fokus liege primär auf Eigenverantwortung, Kreativität und Innovation auf lokaler Ebene. Der weltweite Zugang zu Hochschulbildung für Flüchtlinge liege aktuell bei rund drei Prozent – die UN-Flüchtlingsorganisation arbeitet auf eine Zugangsrate von 20 Prozent hin.

Aktuell wird das Genfer Flüchtlingsforum als innovative Gelegenheit angepriesen, eine gemeinsame Einschätzung der aktuellen Situation zu treffen und internationale Lösungsansätze zu stärken. Das wurde bisher stets von hochkarätig besetzten Konferenzen erhofft, ohne daß es bisher eine klare Strategie für die künftige Gestaltung des globalen Flüchtlingssystems gibt. Die Autoren von „Gestrandet“, die selbst einige Lösungsansätze aufzeigen, konstatierten in ihrem Buch: „Wenn internationale Organisationen nicht mehr wissen, was sie tun sollen, berufen sie eine Konferenz ein.“ Aktuell ist es wieder soweit.