© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/19 / 15. November 2019

Der Widersacher wird zum Feind
Essay: Wo Freiheitsrechte und die Vernunft auf der Strecke bleiben, gerät auch der Parlamentarismus in die Krise
Eberhard Straub

Alexis de Tocqueville, der 1840 ein klassisches Werk über die Demokratie in Amerika abgeschlossen hatte, beschäftigte die Sorge, wie es möglich sein könne, Demokratie und Freiheit miteinander zu vereinbaren. Denn in demokratischen Zeiten ist, wie er vermutete, der Hang zum Despotismus besonders zu fürchten. Das Ziel der nie zur Ruhe findenden Demokratisierung, Gleichheit der Lebensverhältnisse und damit auch des Denkens und Fühlens zu erreichen, ermögliche unter Umständen einen ganz neuen Absolutismus, der allmählich mit betreuender Fürsorglichkeit alles selbständige Leben ersticke.

Der leidenschaftliche Freund der Freiheit hielt diese Entwicklung nicht für unausweichlich. Er wollte vielmehr Demokraten vor Illusionen warnen und die Demokratie vor ihren Versuchungen bewahren. Alexis de Tocqueville resümierte die Bedenken der Liberalen gegenüber unklaren Bedürfnissen, dauernd mehr Demokratie zu wagen. Wahrhafte und wehrhafte Demokraten von heute begreifen solche Vorbehalte gar nicht mehr. Für sie erfüllt sich der Liberalismus in der Demokratie, die Freiheit in der Gleichheit.

Liberale sahen allerdings die Freiheit unmittelbar mit der humanistischen Idee des unerschöpflichen Individuums verbunden, das sich von jedem anderen unterscheidet und in seinem Eigentum, in seiner Eigenart, eben in seiner Freiheit zum Anderssein nicht beschränkt werden darf. Solcher liberalen Freiheit widersprach die demokratische Tendenz, den konkreten Einzelnen einer ihn beengenden Gleichheit einzupassen. Alles Eigene, vom materiellen Eigentum bis hin zur geistigen Unverwechselbarkeit,  verdiente vielmehr höchsten Respekt, es galt Liberalen als heilig.

Ein geordnetes Zusammenleben beruhte für sie deshalb auf der sittlichen Übereinkunft, jeden einzelnen mitten in der Welt als eine Welt für sich zu achten, unergründlich und unvergleichlich. Daher rückten sie die Diskussion, das öffentliche Gespräch, in den Mittelpunkt, damit sich in Staat und Gesellschaft durch die ungehinderte Konkurrenz der Meinungen die sachbezogene Vernunft durchsetzen und wirre Aufregungsbedürftigkeit beruhigt werden könne. 

Zu den Voraussetzungen eines vernünftigen Gespräches gehörte es, jeden als gleichberechtigt  gelten zu lassen und auch bei erstaunlichsten Eigenwilligkeiten nicht nach der Polizei zu rufen oder bei Gerichten vorstellig zu werden. Das Parlament sollte in diesem Sinne die Stätte sein, wo im lebhaften Austausch kontroverser Ansichten die Vernunft ihre heilsame Macht entfaltet und Widersprüche und Gegensätze versöhnt oder zumindest abschwächt.

Im diskutierenden Parlament repräsentierte sich überredend und überzeugend die souveräne Vernunft. Der Überstimmte wurde nicht als unvernünftig disqualifiziert, wenn er weiter auf seiner Meinung beharrte, auch der irrende Geist hatte für Liberale Anteil am Geist und wurde nicht als Ungeist disqualifiziert. Sie  wollten im Inneren des Staates keine Feindschaften schüren und ihre Gegner nicht moralisch in Frage stellen oder gar fertigmachen. Das Parlament unterschied sich nicht grundsätzlich von einem gepflegten Herrenzimmer, indem es hoch hergehen konnte, was ja gerade die Freude an unterschiedlichen Temperamenten nicht minderte, die aufeinander prallend dennoch eine Einigkeit in Vielfalt bezeugten, aufeinander zu hören, um die Stimme der Vernunft nicht zu überhören.

Diese  ungemein gesellige und humane Haltung bildete das Fundament des Parlamentarismus. Die Wirklichkeit war spannungsvoller als das Ideal. Aber  auch die Gegner des Parlamentarismus kamen im Parlament zu Wort. Alle wahrten untereinander die Formen der Höflichkeit. Das Parlament mit vielen Parteien repräsentierte auf halbwegs übersichtliche Weise eine insgesamt unübersichtliche Öffentlichkeit zahlloser Gruppen, Bewegungen und Kreise. Das Besondere, auch das Absonderliche brauchte nicht zu bangen, energisch zur Ordnung gerufen zu werden. Die Ordnung entfaltete sich als ein unerschöpfliches prächtiges Pluriversum individueller Lebensentwürfe, geschützt von einem Rechtsstaat und einem Parlament, die sich als Hüter auch eigenwilligster Bekundung geistiger oder praktischer Daseinsfreude verstanden und betätigten. 

Davon ist nach dem Untergang bürgerlicher Lebensformen und ihrer umfassenden Liberalität seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr viel übriggeblieben. Keiner vermutet mehr, daß in parlamentarischen Debatten mit ihrem Parteigezänk und dem Lärm der Schlagworte die Vernunft siege. Sie sind eine lästige Veranstaltung, ein Zugeständnis an die Theorie des Parlamentarismus, weil die ernsthafte Arbeit in Ausschüssen und Gremien stattfindet. Unter Demokraten haben Freiheit und Vernunft ihr Prestige verloren, da eine unkontrollierte Freiheit zu ganz unvernünftigen Ergebnissen führen könne, die als undemokratische überhaupt nicht wünschenswert wären.

Wahrhafte und wehrhafte Demokraten mißtrauen deshalb längst der Freiheit, weil nur gut und bekömmlich zu wirken vermag, was auch zugleich demokratisch und deshalb vernünftig ist. Die Freiheit wird von der Vernunft abgekoppelt. Vor der Freiheit muß vielmehr eindringlich gewarnt werden. Nur zu oft lautet die Parole der Demokraten: keine Freiheit für die Feinde der Freiheit, also der Demokratie, keine Toleranz den Intoleranten. Wobei sie bestimmen, wer ihr Feind ist oder gar der Feind schlechthin. Ein öffentliches Gespräch ist nicht mehr möglich, sobald einige im Wettbewerb der Meinungen zu Feinden erklärt werden. Dann verliert auch der Parlamentarismus seinen Sinn. 

Liberale hatten nie vergessen, daß die Französische Revolution sich in der Schreckensherrschaft radikaler Demokraten 1793/94 vollendete. Die Gleichheit kommt ohne einen allgemeinen Willen der vielen nicht aus, der sich im einheitlichen Wollen wie in einer Glaubensgemeinschaft offenbart. Der Einheit und Einförmigkeit standen allerdings Parteiungen, Meinungsverschiedenheiten, der Individualismus oder Föderalismus in seinen vielen Sonderformen von der Familie, den Provinzen und Städten über Kirchen und philosophische oder ästhetische Systeme im Wege. Im Besonderen äußerte sich gefährliche Unvernunft, die von Aristokraten, Royalisten, störrischen Christen oder intoleranten Menschenfeinden aller Art ausging. Die eine Vernunft fordert die Gleichheit der Vernünftigen. Sie muß sich mit dem Schrecken verbinden, um jeden das Fürchten zu lehren, sich nicht eigensinnig von den Gleichen abzusondern und undemokratisch zu verhalten. 

Sarastro, der unerschrockene Weise, der Toleranz und Humanität als totale Mitmenschlichkeit in Mozarts „Zauberflöte“ kurz vor der französischen Schreckensherrschaft der Gleichen 1791 verkündete, machte keinen Hehl daraus, was dem unweigerlich widerfährt, den solche Lehren nicht erfreuen: er verdiene nicht, ein Mensch zu sein. Es sind die wahrhaften und wehrhaften Menschen, die bestimmen, wer ein Mensch oder ein Menschenfeind ist und wer es wert ist, als ein Mensch geachtet zu werden. Jeder, der wegen Normierungsschwächen 1793 und 1794 auffiel, machte sich verdächtig und wurde von den Gleichen in volkspädagogischer Absicht für alle noch Schwankenden ertränkt, erschossen, guillotiniert und aus der Gemeinschaft der Menschen eliminiert oder gründlicher Umerziehung unterworfen. Diese Erfahrungen veranschaulichten Liberalen drastisch, daß ohne die mäßigende Freiheit Demokratien als totale Mobilmachung aufrechter Demokraten in Despotie ausarten. 

Von der Freiheit ist heute  wenig die Rede, vom Staat und Recht ohnehin nicht, über denen als Höheres und Höchstes die sogenannten Werte schweben. Wer an der Wertegemeinschaft der Demokraten zweifelt, gerät sogleich in den Verdacht, ein Abtrünniger der alle verpflichtenden Gemeinschaft wertebewußter Demokraten zu sein. Die Liberalen und Freien kannten keinen Feind. Die Wertegemeinschaftler beschwören hingegen ununterbrochen den Feind und dessen widerwärtige Umtriebe und mahnen zu Achtsamkeit. Das öffentliche Gespräch findet unter Genossen einer kämpferischen Gesinnungsgemeinschaft statt, es ist ein Selbstgespräch. Es gibt keinen Dialog mehr, obgleich ununterbrochen beteuert wird, wie notwendig das Gespräch sei. Darüber sind der Parlamentarismus und mit ihm die debattierende Öffentlichkeit in eine Krise geraten, überall in der westlichen Wertegemeinschaft.  Kein Wertebewußter hält sich mehr an die Spielregeln des Wettbewerbes. Es geht um Macht, um ausschließliche Macht, den Konkurrenten als Feind zu erledigen. 

Im Parlament stehen sich nicht verschiedene, gleichberechtigte Gruppen  gegenüber. Den Sieger im Wettbewerb – etwa Präsident Donald Trump – wollen die Unterlegenen, die mit ihrer Niederlage nicht fertig werden, kriminalisieren und als Feind um seine amtliche Würde und sein persönliches Ansehen bringen. Das britische Parlament erweist sich als unfähig, eine sachliche Frage, wie den Austritt aus der EU, befriedigend zu lösen. Überall in der westlichen Wertegemeinschaft kämpfen Feinde gegen Feinde. Demokratien werden zu Veranstaltungen der Unversöhnlichkeit und der Friedlosigkeit, nicht zuletzt weil die Führer der aufgeregten Massen – Journalisten, Politiker, Professoren, Bischöfe und Sinnstifter in Verbänden und NGOs – jeden Widersacher als Feind einschätzen, und sich weigern auf seine Argumente einzugehen. 

Die streitlüsternen Demokraten brauchen Freunde der Freiheit, um sie vor sich selber zu schützen. Ohne vernünftige Freiheit erleiden die wehrhaften Demokraten das gleiche Geschick wie die nach Walhall aufbrechenden Götter Wagners: „Ihrem Ende eilen sie zu / die so stark im Bestehen sich wähnen“, wie der scharfsinnige Systemkritiker Loge ihnen nachrief, den neunmalklugen Betrügern und subjektiven Wertesetzern, die ihre Götterdämmerung vorbereiteten, ihren schmählichen Untergang.