© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/19 / 15. November 2019

Ursula Ziebarth: Lesend in der Berliner Apokalypse
Aus Benns Welt
(dg)

Gemessen am üblichen hohen Tempo, mit dem Bibliotheken nach dem Tod ihrer Besitzer bei den Bouquinisten am Berliner Bode-Ufer landen, ging es bei den von der Schriftstellerin und Sammlerin Ursula Ziebarth hinterlassenen Büchern zu wie täglich bei der Deutschen Bahn. Erst mit einiger Verspätung, nachdem, wie es in Nekrologen stereotyp hieß, „die letzte Geliebte Gottfried Benns“ im März 2018 mit 96 Jahren verstorben war, wurden nun ihre Bücher, 2.500 überwiegend den Kanon der Weltliteratur abbildende Bände, für zwei Euro pro Stück feilgeboten. Natürlich nicht dabei waren Zimelien wie ihr von Benn, den sie 1954 bei einem Dichtertreffen kennengelernt hatte, dezidierte Widmungsexemplare. Antiquarisch betrachtet also nicht bemerkenswert. Bildungs- und zeitgeschichtlich gesehen schon. Das gilt vor allem für jenen älteren Bestand wissenschaftlicher Werke, den Ziebarth während ihrer bis 1945 in Heidelberg, Straßburg und Berlin verbrachten Studienjahre erwarb. Anhand ihrer zierlichen, präzis datierten Besitzeinträge ist nicht nur zu verfolgen, daß sich ihr Interesse in dem Maß auf die Geschichte des ersten, mittelalterlichen Reiches konzentrierte, wie sich das Dritte und mit ihm das Zweite Reich von 1871 dem Untergang näherte. Sie dokumentieren auch, wie die junge Frau, deren Mutter dem gewaltigen US-Luftangriff am 3. Februar 1945 zum Opfer fiel, auf die Berliner Apokalypse reagierte und ihre „Tage des Überlebens“ (Margret Boveri) gestaltete: unbeirrbar Bücher kaufend und lesend, vor und nach dem 8. Mai 1945. Später veröffentlichte sie vor allem Sachbücher für Kinder und 2001 den Band „Hernach“, der die Briefe Gottfried Benns an sie und Ursula Ziebarths ausführliche Kommentare dazu umfaßt.