© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/19 / 15. November 2019

Die kollektive Schizophrenie wird vertieft
Über Fehldeutungen von Meinungs- und Widerspruchsfreiheit in der Bundesrepublik
Thorsten Hinz

Auch die Kanzlerin ließ es sich nicht nehmen, im Spiegel-Interview ihre Meinung zum Thema Meinungsfreiheit kundzutun. Keineswegs könne die Rede davon sein, „daß ein sogenannter Mainstream“ ihr Grenzen setze. Allerdings gebe es auch kein „Widerspruchsverbot“. Daher müsse man „damit rechnen, Gegenwind und gepfefferte Gegenargumente zu bekommen. Meinungsfreiheit schließt Widerspruchsfreiheit ein“.

Nicht nur mit der deutschen Nationalhymne, auch mit der deutschen Sprache steht Angela Merkel auf Kriegsfuß. Aus Unwissen zwingt sie Begriffe zusammen, die nicht zusammengehören. Die Meinungsfreiheit ist ein in der bürgerlichen Revolution erkämpftes, aktuell in der Verfassung verbrieftes, inzwischen schwer bedrohtes Grundrecht, die „Widerspruchsfreiheit“ hingegen ein Imperativ aus dem Bereich der Logik. Der Begriff bezeichnet die Konsistenz, die Schlüssigkeit einer Aussage. Und zwar ist eine Aussage konsistent, wenn aus ihr keine Folgerungen abgeleitet werden können, die im Widerspruch zueinander stehen und sich gegenseitig negieren. Im Kleinen Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie (Ost-Berlin 1984, Erstausgabe 1966), das für Studenten in der DDR und also auch für Merkel verbindlich war, heißt es: „Die Forderung der logischen Widerspruchsfreiheit ist auch vom Standpunkt des dialektischen Materialismus für jede wissenschaftliche Theorie obligatorisch, da sich andernfalls beliebige Aussagen – also auch falsche – aus ihr ableiten lassen.“

Weder dem Pressestab im Kanzleramt noch dem Bedienungspersonal vom „Sturmgeschütz der Demokratie“ ist aufgefallen, daß die Kanzlerin im Marxismus-Leninismus-Seminar nicht aufgepaßt und die Widerspruchsfreiheit mit dem Recht auf Gegenrede verwechselt hat.

Moralische Diffamierung statt Argumentenaustausch

Um dieses aber ist es, anders als Merkel behauptet, schlecht bestellt. Zahlreiche Aussagen der Kanzlerin sind in sich widersprüchlich bis zur Absurdität, und ihre Politik ist so inkonsistent und schädlich, daß die Kritik daran gar nicht gepfeffert genug sein kann. Der größte Widerspruch tut sich auf zwischen der Massenzuwanderung und dem Versprechen, den deutschen Sozialstaat zu sichern. Der „Gegenwind“, der denen entgegenweht, die darauf hinzuweisen wagen, besteht so gut wie nie aus Argumenten, sondern fast immer aus Repression. Sie reichen von der Zensur über öffentliche Stigmatisierung, über soziale und juristische Sanktionen bis hin zu Bedrohungen der Person. In Mitleidenschaft gezogen wird auch die Freiheit der Lehre und Forschung, die Informations-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, also viel von dem, was die politische Freiheit ingesamt konstituiert.

Neu ist das nicht. Vor fast genau 26 Jahren, am 18. Dezember 1993, veröffentlichte der Historiker Rainer Zitelmann, kurzzeitiger Feuilleton-Chef der Welt, in der Zeitung den Aufsatz „Wenn Herrschaftsfreie herrschen“. Er konstatierte „eine muffige, stickige Atmosphäre“ sowie einen „unerträglichen Konformismus“, und zwar „insbesondere dort, wo ‘kritische’ Geister besonders einflußreich sind“, in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten, in den Medien, in den Gewerkschaften. „Feministinnen, National-Allergiker, Multikulti-Anhänger und Betroffenheitsapostel“ würden nicht nur „ihre Thesen aktiv und vehement vertreten“ – was ihr gutes Recht sei –, sie würden Andersdenkende ausgrenzen und Kritiker mundtot machen. Zitelmann zitierte den damaligen sächsischen Justizminister Steffen Heitmann, der inzwischen aus Frustration über Merkel die CDU verlassen hat. Heitmann hatte „Tabus und Denkverbote“ bei den Themen „Frauen, Ausländer, NS-Vergangenheit“ moniert.

Der Text hat nichts von seiner Gültigkeit verloren, er benötigt aber ein paar Ergänzungen. Die Tabus haben sich um das Klima-Thema vermehrt. Der Feminismus hat sich zu einer allgemeinen Bewegung von Minderheiten ausgeweitet, die angeblich unter der Diskriminierung durch „alte weiße Männer“ leiden – auf deren Leistungsbereitschaft und -fähigkeit man trotzdem auf keinen Fall verzichten kann und will.

Der Konformitätsdruck, der damals vor allem vom linken Spektrum der Gesellschaft ausging, das sich öffentlichkeitswirksame Positionen in den Medien und Universitäten erobert hatte, wird heute unmittelbar von staatlichen und semistaatlichen Institutionen ausgeübt. Er wirkt nicht mehr nur punktuell und spontan, sondern flächendeckend, organisiert und zunehmend kodifiziert, das heißt über Vorschriften und Gesetze. Der Austausch von Argumenten ist fast vollständig der moralischen Diffamierung gewichen, der Opponent wird statt als politischer Gegner als zu eliminierender Feind behandelt.

Um eine für den Politik- und Medienbetrieb typische Reaktion eines namentlich nicht erwähnenswerten Journalisten des Redaktionsnetzwerks Deutschland zu zitieren, das etwa fünfzig Regional- und Lokalzeitungen versorgt und eine tägliche Gesamtauflage von 2,3 Millionen Exemplaren erreicht: In einem längeren Text zur Bedrohung der Meinungsfreiheit fiel diesem Sprachrohr des Mainstreams nur ein, daß es sich um ein künstlich aufgebauschtes Problem handele. „Vor allem Rechte fühlen sich in ihrer Meinung eingeschränkt, weil sie nicht unwidersprochen andere Menschen mit Haß überschütten dürfen.“ Die zugehörige Zwischenüberschrift lautete: „Nazis fühlen sich in ihrer Meinung eingeschränkt.“ Und Nazis, so die unausgesprochene Konsequenz, sind Feinde der Menschheit und haben ohnehin kein Existenzrecht im politisch-medialen Raum.

Nolte warnte vor „Gesetz für das Außergesetzliche“

Diese Anschauungsweise, so schlicht wie brutal, dürfte von den meisten, insbesondere von den jüngeren Medienschaffenden geteilt werden. Ihre Zurichtung durch Schule, Medien, Universitäten läßt ihnen gar keine andere Wahl, als opponierende Standpunkte  mit der Anklage-Trias „Nazi! Haß! Hetze!“ zu beantworten.

Auslöser und tieferer Grund des ausgreifenden „Nazi“-Revivals – in Dresden proklamierte ein außer Rand und Band geratenes Stadtparlament bereits einen „Nazi-Notstand“ – ist die politische, intellektuelle und mentale Überforderung der Bundesrepublik infolge der Wiedervereinigung. In der Fixierung auf den Nationalsozialismus beziehungsweise auf das „Niewieder“ versucht eine in ihren falschen Gewißheiten erschütterte Gesellschaft ihr verunsichertes Selbst zu stabilisieren. Schon bald nach der Wiedervereinigung wurden der Neonazismus, angebliche Ausländerfeindlichkeit und der Tatbestamd der Volksverhetzung als die zentralen Probleme der nach Osten erweiterten Bundesrepublik identifiziert. Seither wurde der Paragraph 130, der die Verharmlosung der NS-Zeit – was immer das sein mag – und faktisch auch die „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (Wilhelm Heitmeyer) unter Strafe stellt, mehrfach erweitert und verschärft.

Der Historiker Ernst Nolte hatte 1994 in einem für die FAZ verfaßten Aufsatz eindringlich vor dem „Gesetz für das Außergesetzliche“ gewarnt. Die Intentionen seien gewiß redlich, doch bestünde die Gefahr einer „neuen Quasi-Religion“. Ihre Verfechter „brauchen das Absolut-Böse in der Vergangenheit, um (…) doch in bestimmten Erscheinungen ein Wiederauftauchen jenes Absolut-Bösen bekämpfen zu können. Nur dadurch gewinnen sie das Empfinden, selbst die Protagonisten des Absolut-Guten zu sein.“ Tendenziell drohe der Unterschied zwischen der liberaldemokratischen und totalitär-autoritären Staatsform dadurch zu verschwinden.

Artikel wie die von Nolte und Rainer Zitelmann könnten heute in der Welt oder FAZ nicht mehr erscheinen. Das jakobinische Eiferertum der „Guten“ hat auch diese einstigen Bastionen des Konservatismus erobert. Wenn Bundespräsident Steinmeier in seiner Rede zum 9. November erklärte: „Die liberale Demokratie ist angefochten und in Frage gestellt“, dann ist hinzuzufügen, daß das am effektivsten von ihren erklärten Verteidigern geleistet wird.

Vage definierte Delikte wie die „Haßrede“; die Installierung informeller Überwachungsagenturen; Medienberichte über Hausdurchsuchungen wegen Fehlverhaltens im Internet; die subkutan oder offen geschürte Furcht, vom Inlandsgeheimdienst ins Visier genommen zu werden, führen zu Selbstzensur und schließlich zur Aufhebung der Meinungsfreiheit und der politischen Freiheit überhaupt.

Im Sommer 2019 kam das Bremer Landgericht zu der Auffassung, daß der sarkastische Begriff „Goldstücke“ für kriminelle Asylanten den Tatbestand der „Haßrede“ erfüllt. Der entsprechende Beitrag des Facebook-Nutzers sei ein „Angriff auf eine Personengruppe“, da er alle Flüchtlinge mit dem Mord in Verbindung bringe. Diese Folgerung ist keineswegs zwingend, denn der Begriff nimmt Bezug auf eine unfreiwillig komische Äußerung des ehemaligen SPD-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten  Martin Schulz: „Was die Flüchtlinge zu uns bringen, ist wertvoller als Gold.“ Der Sarkasmus zielt vor allem auf die Verfaßtheit der politisch-medialen Klasse und der von ihr betriebenen und propagierten Politik.

Mit der Beschneidung der Meinungsfreiheit will sie sich aus der Kritik nehmen; im weiteren Sinne soll die Realität selbst abgeschafft und durch ihr Propagandabild ersetzt werden. Das kann nicht gelingen, aber die Gefahr ist real, daß eine kollektive Schizophrenie vertieft und auf Dauer gestellt wird.