© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/19 / 15. November 2019

Eine Bilanz dreißig Jahre nach dem Mauerfall: Die DDR 2.0 im besten Deutschland, das es je gab
Sie hat überlebt
Michael Klonovsky

Ich habe ungefähr die erste Hälfte meines Lebens in der DDR verbracht – ich bin Jahrgang 1962 –; das heißt, mit jedem Jahr, das ich jetzt älter werde, überwiegt der bundesrepublikanische Teil meiner Biographie. Seit geraumer Zeit beschleicht mich gar die Ahnung, es könne wieder in einer Art von DDR enden, einer DDR 2.0 sozusagen, einer smarteren, in ein höheres Sein überführten DDR, aber eben doch einer semisozialistischen Erziehungsdemokratur auf rumpfmarktwirtschaftlicher Grundlage und mit zunehmend levantinischem Antlitz. 

Wer hätte am 9. November 1989, als der von ideologischen Starrköpfen geführte Mauerstaat in so atemberaubender Geschwindigkeit zusammenbrach, unter den hinter dieser Mauer Eingepferchten gedacht, daß sie kaum ein halbes Menschenleben später beobachten würden, wie ihr von ideologischen Starrköpfen geführtes Gemeinwesen nun in Ermangelung einer Grenze täglich ein bißchen weiter in Richtung Systemversagen steuert und eine offene und unkontrollierte Grenze mit ähnlichem Starrsinn verteidigt wird wie ehedem der „antifaschistischer Schutzwall“ vom DDR-System verteidigt wurde? 

  Die neue historische Erzählung, die man in nahezu sämtlichen Medien hören und lesen kann, lautet: Im Herbst 1989 gingen die Menschen für Weltoffenheit und gegen Abschottung auf die Straße. Grenzen sind schlimm, und die Rechtspopulisten wollen heute wieder Mauern bauen. Die „Tagesschau“ brachte es zum Jahrestag des Mauerbaus am 13. August fertig, den Stacheldrahtverhau um Honeckers Staatsgatter, an dem es, wenn du von drinnen ins Freie wolltest, den Fangschuß setzte, in einem Atemzug mit der israelischen Grenze und der amerikanischen Grenze zu Mexiko zu nennen, also zwei Grenzen, mit denen Staaten ihr Hoheitsgebiet vor illegaler Einwanderung, Kriminalität und, was Israel betrifft, vor Terrorismus schützen. Diese lustigen Gesellen vom Staatsfunk wollen uns also einreden, daß es keinen Unterschied gibt zwischen: Niemand darf raus und: Nicht jeder darf rein. Daß es keinen Unterschied gibt zwischen einem Menschen, der seine Haustür abschließt, um selber zu entscheiden, wen er hereinläßt, und einem anderen Menschen, der jemanden in seinem Haus gefangenhält.  

Die DDR war tot, doch gerade die marktwirtschaftliche Frischblutzufuhr hat den Zombie wieder fit gemacht. Die Linke hat nämlich aus dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten eine Lehre gezogen. Wenn jeder sozialistische Staat der Erde aus wirtschaftlichen Gründen kollabiert, dann gibt es offenbar keine funktionierende linke Wirtschaft. Die ins Staatspolitische übertragene Folgerung daraus lautet: Lassen wir den Kapitalismus weiterleben, aber sorgen wir dafür, daß wir die kulturelle Hegemonie haben, daß wir die Öffentlichkeit beherrschen, daß wir den Sozialstaat kontrollieren, daß möglichst viel umverteilt wird, wobei natürlich wir diese Geldströme kontrollieren müssen, damit auch möglichst viel in unsere Taschen fließt. Die Linke hat begriffen, daß sie den Kapitalismus nicht stürzen muß, um zu herrschen. Die heutige Linke will nicht mehr der Widerpart des Kapitalismus sein, sondern sein Parasit. Die DDR konnte also durchaus überleben, obwohl sie als Staat zusammengebrochen ist. Ohne den Kapitalismus als Wirtstier bringt die Linke nur Unheil zustande. Johannes Gross hat das in die reizende Sentenz gefaßt: Honecker mußte 17 Millionen Menschen unterdrücken, um den Lebensstandard eines westdeutschen Handwerksmeisters zu erreichen, der 17 Mitarbeiter beschäftigt.

Als ein in der „ehemaligen“ DDR Aufgewachsener sehe ich mich heute von einem Wald aus Déjà-vus umstellt. Zum Beispiel, wenn sich Kulturschaffende in öffentlichen Ergebenheitsadressen hinter die Politik der Staatsführung stellen und zum Kampf gegen die Opposition aufrufen. Oder wenn konformistische Aktionen wie die „Erklärung der Vielen“ mit Geldern aus dem Kanzlerinnen-Etat bezuschußt werden. Oder wenn eine Stasi-Zuträgerin wie Anetta Kahane für ihre Bespitzelungs- und Denunziationsstiftung unter anderem mit meinem Steuergeld alimentiert wird, also auf meine Kosten meine Freiheit unterwühlt.

Oder wenn Kritiker der geduldeten und geförderten Einwanderung von überwiegend jungen männlichen Primär- oder Sekundäranalphabeten in der Medienöffentlichkeit behandelt werden wie in der DDR sogenannte feindlich-negative Subjekte, die am proletarischen Internationalismus und an der Sicherung des Weltfriedens durch den Warschauer Pakt zweifelten – wenngleich im smarten Gesinnungsstaat BRD die Konsequenz nur soziale Isolation und nicht gleich Isolationshaft heißt; soviel Differenzierung muß sein.

Oder wenn eine ehemalige SED-Genossin und DDR-Juristin, die vor der Wende gegen die „aggressivsten und reaktionärsten Kräfte des Monopolkapitals“ anschrieb, Vorsitzende der ARD werden und ihren Job darin sehen konnte, „den Positionen der AfD den Boden zu entziehen“.

Diese Konsensvollstreckungsgeilheit, diese alternativlose Zukunftsgewißheit, diese ständige Massenmobilisierung, die Lagerbildung und Feindmarkierung, das flankierende Spitzel- und Denunziationswesen: das riecht alles nach DDR. 

Wenn eine staatliche Institution wie die Hessische Filmförderung, die ihren Etat über das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst und den Hessischen Rundfunk aus Steuergeldern bezieht, den Geschäftsführer entläßt, weil der sich privat mit dem Vorsitzenden der größten Oppositionspartei getroffen hat und aus der Presse nicht mal ein Grummeln zu vernehmen ist, was ist das anderes als eine DDR 2.0? Was früher der unerlaubte Westkontakt war, ist heute der verbotene AfD-Kontakt.

Diese Konsensvollstreckungsgeilheit, diese blöde blinzelnde alternativlose Zukunftsgewißheit, während tatsächlich nur abgeräumt wird, was noch steht, diese ständige Massenmobilisierung, die Lagerbildung und Feindmarkierung, das flankierende Spitzel- und Denunziationswesen: Das riecht alles nach DDR.

Was mich persönlich am meisten an damals erinnert, das ist der Gesinnungsdruck, das ist die alltägliche moralische Erpressung, das sind die feststehenden Schmähbegriffe für diejenigen, die früher „Staatsfeinde“ oder „Agenten des Klassenfeindes“ hießen, das ist die Welt der zwei Zungen, eine für daheim, eine für die Öffentlichkeit. Ich bemerke es jedesmal, wenn mich meine Kinder irgend etwas Politisches fragen, worüber in der Schule gesprochen wird. Was ich von Merkel halte etwa. Was ich von „Fridays for Future“ halte. Ob Donald Trump wirklich so schlimm ist. Ich erkläre dann in der Regel, daß ich die Dinge so und so sehe, aber daß sie sich ihre Meinung selber bilden sollen. Meist füge ich noch hinzu, daß es nicht zwingend nötig ist, ihren Lehrern und Mitschülern von meiner Sicht der Dinge zu erzählen. 

Ich bin schließlich schon in frühester Jugend darauf dressiert worden, daß es besser ist, wenn andere nicht von meiner Sicht der Dinge erfahren. Ich komme ja aus der DDR. Ich komme aus der Zukunft. Doch daß man aufgefordert wird, etwas auszusprechen, und sei es nur als Frage, was einem unter den Nägeln brennt, und man es wegen der kalkulierbaren Folgen lieber läßt – so etwas ist im besten Deutschland, das es je gab, plötzlich wieder Alltag. Mit einer einzigen falschen Bemerkung kann man sich heute die Karriere verderben, den Studienplatz riskieren, den Job verlieren, den Bekanntenkreis halbieren. 

Vor dreißig Jahren, als diese verfluchte Mauer gefallen war, glaubte ich, fortan in einem freien Land leben zu dürfen. Das war naiv. Bärbel Bohley sah die Entwicklung schon damals weit klarer. „All die gründliche Erforschung der Stasi-Strukturen, der Methoden, mit denen sie gearbeitet haben und immer noch arbeiten, all das wird in die falschen Hände geraten“, prophezeite sie im Frühjahr 1991. „Man wird diese Strukturen genauestens untersuchen – um sie dann zu übernehmen. Man wird sie ein wenig adaptieren, damit sie zu einer freien westlichen Gesellschaft passen. Man wird die Störer auch nicht unbedingt verhaften. Es gibt feinere Möglichkeiten, jemanden unschädlich zu machen. Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. Man wird Einrichtungen schaffen, die viel effektiver arbeiten, viel feiner als die Stasi. Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.“ 

Das ständige Lügen, die Desinformation, der Nebel: Ich erinnere an die „Fachkräfte“, die zu Hunderttausenden zu uns ins Land strömen, an die Ärzte und Ingenieure, die ein neues Wirtschaftswunder ins Werk setzen sollten, an die permanenten Geld- und Brieftaschenfunde sogenannter Flüchtlinge und die prompten Zurückerstattungen der Funde an die schusseligen eingeborenen Besitzer. Ich erinnere an die Propaganda, daß „Flüchtlinge nicht krimineller als Deutsche“ seien – sind sie auch nicht, sie begehen nur ungleich mehr Straftaten –, und daß jeder, der etwas anderes behauptet, ein Rassist sei. Oder an die polyphon vorgetragene Lüge, daß sich unter den Schutzsuchenden keine Terroristen befänden. Oder an die notorisch vorgebrachte Behauptung, die Anschläge von Terroristen, die sich auf den Islam berufen, hätten nichts mit dem Islam zu tun. Und, und, und. Ein Lügenmeer, ein Desinformationsozean, eine landesweit wabernde Nebelbank.

Das Befremden darüber zum Ausdruck bringen, daß der Schoß immer noch fruchtbar ist, daß er nur dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch der Ostblock-Diktaturen munter neue Enteigner, Kollektivisten, Denunzianten und Verfolger hervorkreißt. 

Aber Sie wollen doch, höre ich bisweilen, die Zustände in der DDR nicht mit heute vergleichen? Nein – gewollt habe ich es nie. Aber es drängt sich einfach auf. Vergleichen heißt ja nicht gleichsetzen. Ein Vergleich legt auch die Unterschiede offen; und natürlich gibt es Unterschiede. Die Opposition sitzt heute im Bundestag und nicht im Knast – wobei jeder einzelne AfD-Abgeordnete davon ausgehen kann, daß er nach seiner Parlamentarierzeit draußen ungefähr so behandelt wird wie ein DDR-Regimekritiker nach seiner Gefängniszeit behandelt wurde: als Aussätziger. Stasiakten werden nicht mehr heimlich geführt, sondern für jedermann einsehbar bei Wikipedia. Die Polizei verfolgt die Opposition nicht, sondern beschützt sie – zumindest einstweilen noch – vor der im Namen der Toleranz aufgehetzten Zivilgesellschaft. Der wichtigste Unterschied besteht freilich darin, daß man aus der Bundesrepublik jederzeit ausreisen kann. 

Trotz all dieser ernsten Scherze muß der Vergleich DDR-Bundesrepublik auch seine Grenzen haben. Die DDR war ein Drecksstaat, eine gemeine Diktatur, ein Großkombinat zur Abrichtung von Untertanen, ein Schurkenstaat mit einem Schurkengeheimdienst, ein Spitzel- und Polizeistaat, ein XXL-Knast für 17 Millionen Insassen. Wenn man solche Vergleiche anstellt, dann vor allem, um das Befremden darüber zum Ausdruck zu bringen, daß der Schoß immer noch fruchtbar ist, daß er nur dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch der Ostblock-Diktaturen munter neue Enteigner, Kollektivisten, Denunzianten und Verfolger hervorkreißt. Wenn ich DDR und BRD vergleiche, dann vor allem deshalb, weil ich meinen bescheidenen Beitrag dazu leisten will, daß diese Republik halbwegs freiheitlich und vor allem ein Rechtsstaat bleibt. 

Die DDR hat aber auch in anderer Hinsicht überlebt. Es haben ja nicht nur FDJ-Sekretärinnen in Führungspositionen, Politkommissare, protestantische Staatskirchenpfaffen, Spitzel, Stasi-Kader für die Antifa-Ausbildung, Fachkräfte für Zersetzung, Westlinkenfinanzierer, TV-Moderatorinnen und eine ganze Staatspartei mitsamt ihres verschobenen Vermögens überlebt, sondern auch die normalen Menschen des Ostens, von denen heute viele gegen sozialistische Verheißungen immun sind, ungefähr wie man immun gegen die Masern ist, wenn man sie einmal durchgestanden hat. 

Es hat eben nicht nur die sozialistische Mentalität überlebt, die antibürgerliche Mentalität, die Kollektiv- oder Herden-Mentalität, die Mucker- und Maulkorb-Mentalität, die Sozialneid-Mentalität, die Gleichheit über Freiheit stellende Mentalität, sondern es hat auch die Mentalität des Trotzes, des Aufmuckens, des Sich-nicht-mehr-hinter-die-Fichte-führen-lassens, der Skepsis gegenüber einer moralisierenden und Parolen ausschreienden Führung, des Nonkonformismus und der Ideologieresistenz überlebt. Nicht nur Maybrit Illner kommt aus der DDR, sondern auch Katrin Huß, nicht nur Durs Grünbein, sondern auch Uwe Tellkamp, nicht nur Wolfgang Thierse, sondern auch Vera Lengsfeld. 

Bei den Wahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen hat sich das renitente ostelbische Milieu wieder präsentiert. Die Wahlen im Osten legten Zeugnis ab von einer erfolgreichen Immunreaktion.Eine ganz andere Lesart deutet dagegen die ostelbischen Falschwähler allesamt als frustrierte, fremdenfeindliche, demokratieunfähige Vollpfosten, völkisch-autoritäre Charaktere und unaufgeklärte Verlierernaturen, gegen die von allerlei gruppenbezogenen Tabus umstellte deutsche Öffentlichkeitsarbeiter endlich einmal ihre Haßgefühle ausleben dürfen. Sie stellen die Ossis als widerspenstig, undankbar, unmündig und böse dar – klassische Gouvernanten-Aussagen.

Die ostdeutschen Mündel gehorchen nicht, und da man sie nicht direkt schlagen kann, werden sie mit Verachtung und Stigmatisierung bestraft. Vor allem bestreitet das tonangebende Milieu den Ostdeutschen, daß sie seit 1989 eigene Erfahrungen gesammelt und daraus Schlußfolgerungen gezogen haben. Zum Beispiel mit dem ständig vorgebrachten Scheinargument, wie man im Osten denn gegen die Masseneinwanderung sein könne, es gebe dort doch kaum Migranten. „Hirschfeld in Brandenburg: Null Flüchtlinge, aber 50,6 Prozent AfD“, wunderte sich exemplarisch der Berliner Tagesspiegel. Ich erlaube mir, dagegenzuhalten: Leipzig, Wahlkreis 31: Null Quadratmeter brennender Regenwald, aber 29 Prozent Grüne. Merkwürdig, nicht wahr? 

Ostdeutsche Falschwähler haben begriffen, daß die EU mittlerweile ein Moloch geworden ist, der fast schon so autoritär, freiheitsbeschneidend und für sie unerreichbar agiert wie früher der Warschauer Pakt. Kein sächsischer Busfahrer glaubt, wovon der Bremer Politologe und der Hamburger Medienschaffende durchdrungen sind: daß er Schuld trägt am Elend der Dritten Welt und mit seiner Abluft zum Abschmelzen der Polkappen beiträgt. Im deutschen Willkommenswahn 2015 haben die ostdeutschen Falschwähler erkannt, daß der Merkelismus Züge eines Amoklaufes trägt, vor dessen Folgen man sich schützen muß, haben begriffen, daß ein politischer Apparat, dessen Sprechpuppen Phrasen wie „Bunt statt braun“, „Vielfalt statt Einfalt“, „Wir bekommen plötzlich Menschen geschenkt“, „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“, „Menschlichkeit kennt keine Obergrenze“ und neuerdings „Wir wollen kein CO2 mehr“ daherplappern, so unglaublich infantil und verblödet ist, daß die Marxismus-Dozenten der DDR daneben plötzlich so prätentiös wie griechische Statuen wirken.






Michael Klonovsky,  Jahrgang 1962, ist Publizist und Schriftsteller. Der abgedruckte Text ist ein Auszug einer Rede im rheinland-pfälzischen Landtag in Mainz anläßlich des dreißigsten Jahrestages des Mauerfalls. 

http://michael-klonovsky.de 

Foto: Alter DDR-Aufkleber: „Man wird diese Strukturen genauestens untersuchen – um sie dann zu übernehmen“