© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/19 / 22. November 2019

„Die Gefahr steigt“
Droht uns tatsächlich ein totaler Stromausfall? Ja, so der Buchautor und Wissenschaftsjournalist Alexander Wendt, und dies selbstverschuldet und mit womöglich katastrophalen Folgen
Moritz Schwarz

Herr Wendt, wie hoch ist die Gefahr eines totalen Stromausfalls tatsächlich?

Alexander Wendt: Das Betreiben unseres Stromnetzes kann man sich unter den Bedingungen der Energiewende wie die Kunst eines Jongleurs vorstellen: den Ingenieuren der Netzbetreiber werden ständig neue Bälle zugeworfen. Mit jedem weiteren Ball steigt die Wahrscheinlichkeit, daß sie das System irgendwann nicht mehr stabil halten können. Dann endet alles im Kladderadatsch.

Etwas unkonkret, bitte in Prozent! 

Wendt: Das kann Ihnen keiner sagen. 

Warum nicht? 

Wendt: Weil eine Wahrscheinlichkeit für ein künftiges Ereignis aus Daten der Vergangenheit hochgerechnet werden muß. Woher kennen wir die prozentuale Wahrscheinlichkeit für Regen morgen? Wenn es früher bei sechs von zehn Wetterlagen der Art, wie sie morgen wahrscheinlich herrscht, geregnet hat, dann beträgt die Regenwahrscheinlichkeit für morgen sechzig Prozent. Wo es keine historischen Daten gibt, also für einen bundesweiten Blackout, gibt es auch keine prozentuale Wahrscheinlichkeit für morgen.

Aber es gibt pro Tag in Deutschland durchschnittlich 472 Stromausfälle. 

Wendt: Ja, lokal und in der Regel sehr kurz. Die durchschnittliche Dauer der Stromunterbrechung lag 2018 bei 12,8 Minuten. Aber einen landesweiten Blackout gab es noch nie.

Man muß doch irgendwie einschätzen können, ob ein totaler Stromausfall eher wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist. 

Wendt: Erinnern Sie sich an die Todesfahrt Lady Dianas 1997 in Paris? Ihr alkoholisierter Fahrer rammte den viel zu schnellen Wagen gegen den 13. Pfeiler eines Tunnels – es hätte aber auch der erste, fünfte oder zwanzigste sein können. Dafür gibt es keine Vorausberechnung. Es läßt sich nur sagen: Je länger jemand betrunken durch einen Tunnel rast, desto höher die Wahrscheinlichkeit, daß es kracht. Das gilt auch für das Stromnetz: Je mehr wetterabhängige, also unstetige Energie eingespeist wird, desto instabiler das System, und desto höher die unbezifferbare Gefahr, daß es nicht gut ausgeht. 

Kommt der Blackout vielleicht nie?

Wendt: Ja, so, wie Diana den Tunnel mit viel Glück hätte schaffen können. 

Allerdings verfügt Deutschland über 1.790 Kraftwerke, davon 674 windgetrieben, sowie 1,5 Millionen Solaranlagen. Und da die unmöglich gleichzeitig ausfallen, ist ein Blackout doch gar nicht möglich. 

Wendt: Der kann auch kommen, wenn kein einziges ausfällt. Denn der springende Punkt ist die Stabilität unseres Stromnetzes: Das muß stets im Gleichgewicht sein, sprich, Einspeisung und Entnahme von Strom müssen sich die Waage halten. 

In Ihrem Buch „Der grüne Blackout“ machen Sie die Energiewende für die Gefahr verantwortlich. Warum?

Wendt: Früher haben sogenannte grundlastfähige Kraftwerke kontinuierlich Strom nach Bedarf erzeugt. Sonne und Wind produzieren aber nur nach Wetterlage, mal zu viel, mal zu wenig. Folge: Es entstehen Schwankungen, wie es sie früher nicht gab. Mal wird zuviel erzeugt – dann muß Strom schnell zu Negativpreisen ins Ausland entsorgt werden. Mal gibt es zuwenig, vor allem in der sogenannten Dunkelflaute am Jahresanfang. Dann muß schnell Strom zugekauft und oft auch der Verbrauch beispielsweise eines elektrometallurgischen Werkes gegen Entschädigung heruntergefahren werden. Deutschland gefährdet seine Versorgungssicherheit nicht nur den exzessiven Ausbau der Erneuerbaren, sondern auch durch die Abschaltung der Kern- und demnächst auch der Kohlekraftwerke. Ich habe den Buchtitel „Der grüne Blackout“ doppeldeutig gemeint. Er soll nicht nur für diese Gefahr eines flächendeckenden Stromausfalls stehen, sondern auch für das Unvermögen zu kritischem Nachdenken angesichts des grünen Industrieumbaus. Blackout, das meint bekanntlich auch den Verlust von kognitiven Fähigkeiten.

Das Problem ist also nicht, daß, wie beim Bahn- oder Straßennetz, die physische Infrastruktur marode ist? 

Wendt: Nein. Das Netz ist zwar an sonnigen und windigen Tagen oft bis zum Anschlag belastet, aber das ist nicht das zentrale Problem. Das Problem ist die nicht kontinuierliche Stromeinspeisung, deren Umfang mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien – bei gleichzeitiger Abschaltung grundlastfähiger Kraftwerke – zwangsläufig zunimmt. Wir sprechen hier über die Gefahr system­immanenter Blackouts als Folge unserer Energiepolitik. Es können natürlich mehrere Faktoren zusammenkommen, etwa eine starke Schwankung im Netz, und gleichzeitig ein Softwarefehler oder eine Havarie in einem Kraftwerk. Da bis 2050 der Anteil der erneuerbaren Energien auf achtzig Prozent erhöht werden soll, können Sie sich ausmalen, wie verwundbar unser Netz wird.

Was genau bedeutet „grundlastfähig“, und warum ist das so wichtig?   

Wendt: Grundlast nennt man die Last, die im Stromnetz mindestens zur Verfügung stehen muß. Das sind an einem normalen Werktag etwa dreißig Gigawatt. Das ist gewissermaßen das Fundament, auf dem die Lastspitzen aufbauen. Mit konventionellen Kraftwerken ist das kein Problem – mit Wind und Sonne dagegen schon, denn bei Flaute und Dunkelheit liefern diese nicht. 

Warum kann man ihre Energie an sonnigen und windigen Tagen nicht speichern?

Wendt: Dafür wären riesige Batterien nötig, wie sie bisher noch niemand gebaut hat und die unglaublich teuer wären. Die einzige Methode, Energie in großem Maßstab zu speichern, sind heute Pumpspeicherkraftwerke. Alle deutschen Pumpspeicherkraftwerke zusammen könnten das Land allerdings rechnerisch nur ein paar Stunden versorgen. An der Möglichkeit, mit Strom synthetisches Erdgas herzustellen und dann rückzuverstromen, wird zwar intensiv geforscht. Das sind aber, wie gesagt, Forschungen weit weg von der Marktreife. 

Jederzeit können wir Strom aus dem Ausland zukaufen. Macht das einen Totalausfall nicht unmöglich? 

Wendt: Kündigt sich ein Engpaß an, ist das eine Möglichkeit. Im neuen Energiewende-Report stellt McKinsey fest, die Versorgungssicherheit Deutschlands hat sich verschlechtert: Im Juni gab es an drei Tagen „starke Unterspeisungen“ von bis zu sechs Gigawatt, die per Stromimport aufgefangen werden mußten. Aber bei einem Blackout, der ohne Vorwarnung kommt, hilft kein Ausland mehr. 

Warum wäre das dramatisch? Kann das Netz nicht einfach neu gestartet werden?

Wendt: Es würde auch langsam wieder hochgefahren werden. Doch bei einem flächendeckenden Blackout reißt ein zusammenbrechendes Teilnetz andere Teile mit sich, es kommt zu einer Kettenreaktion. Bevor etwas Hochkomplexes wie ein Stromnetz wieder arbeitet, vergeht Zeit.

Wie lange dauert ein solcher Totalausfall?

Wendt: Das weiß keiner, da wir noch keinen erlebt haben. Zwar vermute ich, daß es spätestens nach wenigen Tagen wieder funktioniert, aber bereits das würde wohl katastrophale Folgen haben. 

Verbreitet sind Szenarien, in denen die Versorgung mit Lebensmitteln, Arznei, Rettungsdiensten und dem Schutz der Polizei zusammenbricht. Gibt es aber auch Folgen, an die wir nicht denken? 

Wendt: Zum Beispiel gäbe es bald kein Trinkwasser mehr, da Wasserwerke Strom brauchen. Die meisten Öl- und Gasheizungen werden heute elektrisch gesteuert. In den meisten Tankstellen wird der Treibstoff elektrisch nach oben gepumpt. Steckengebliebene Fahrstühle sind zwar kein Vergnügen, aber an sich keine Gefahr, weil man früher oder später befreit wird. Bei einem totalen Blackout aber würde den meisten darin Gefangenen wohl kein Techniker zur Hilfe kommen. Und sollte der Ausfall drei Tage dauern, wird aus einer eigentlich banalen Lage eine Todesfalle. Übrigens, falls Sie glauben, einfach durch die Fluchtklappe im Dach dem Aufzug zu entkommen, wie Sie das aus US-Filmen kennen, irren Sie sich. Die gibt es in den meisten deutschen Aufzügen nicht. Was wir meist auch nicht bedenken: Fällt in einer Fabrik schlagartig der Strom aus, können enorme Schäden am Maschinenpark entstehen, vor allem dort, wo Schmelzprozesse und chemische Reaktionen im Gang sind, die dann außer Kontrolle geraten können, wenn Notstromaggregate aus irgendeinem Grund nicht schnell einspringen. Ein Beispiel: Im Juli 2019 gab es im Stahlwerk von Posco im südkoreanischen Gwangyang eine Stromunterbrechung von 33 Minuten. Es brach ein Brand aus, weil die Ventilation mehrerer Hochöfen stoppte, Gesamtschaden: 34 Millionen Dollar. In der Nähe von Houston geriet im August 2017 ein Chemiewerk in Brand, weil durch den Tropensturm Harvey der Strom ausfiel. Firmen könnten schlimmstenfalls daran pleite gehen. Andere würden sich wohl überlegen, ob sie die Gelegenheit nicht nutzen, ihr Werk in einem anderen Land wiederaufzubauen – weil dort die Löhne niedriger sind, oder der Strom billiger, der bei uns durch die Energiewende ja sehr teuer geworden ist. 

Das heißt, ein Totalausfall könnte den Standort Deutschland ernstlich bedrohen?

Wendt: Das ist wie bei Ihrer Frage, ob und wann der Blackout kommt. Vermutlich ja – aber natürlich kann man im Einzelfall auch betrunken und viel zu schnell fahren und trotzdem heil durch den Tunnel kommen.

Sollten solche Folgen eintreten, müßte man dann feststellen – ebenso wie für die unklare Anzahl von Toten –, daß dies direkte Folge der Politik der Bundesregierung ist oder wäre das eine unzulässige Zuspitzung?

Wendt: Nein, die Schlußfolgerung wäre berechtigt.     

Ist diese Gefahr unvermeidliche Folge der Energiewende an sich oder nur dessen, daß die Politik sie falsch durchführt?  

Wendt: Ganz wesentlich ist sie eine Folge der Energiewende, und zwar, weil uns derzeit – das mag in fünf oder zehn Jahren vielleicht anders sein, wer weiß – einfach nicht die dafür nötige Speichertechnologie zur Verfügung steht, und ein Netz zwar viel aushält, aber eben nicht jede Schwankung. Allerdings ist auch nicht klar, ob die Energiewende so wie geplant überhaupt weitergehen wird. 

Inwiefern? 

Wendt: Wir erleben gerade, daß der Windkraftausbau an Land praktisch zum Erliegen kommt. Lange erhielten Windkraftproduzenten einen festen Garantiepreis auf zwanzig Jahre, ihr Geschäft war also weitgehend risikofrei. Seit 2017 bekommt in Ausschreibungen  nur noch der günstigste Anbieter den Zuschlag, wodurch die Margen massiv gesunken sind, das Interesse der Investoren entsprechend abgenommen hat. Im Oktober 2019 gab es für siebzig Prozent der ausgeschriebenen Kapazitäten gar keine Gebote mehr. Enercon, der größte deutsche Hersteller von Windkraftanlagen, wird dreitausend Stellen streichen. Der Windkraftindustrie droht das gleiche Schicksal wie der deutschen Solarindustrie, die vor einigen Jahren,  allerdings wegen der chinesischen Billigkonkurrenz, zusammengebrochen ist. 

Warum ist das so bedeutend? 

Wendt: Weil Windkraft zu Lande den Ausbau erneuerbarer Energien am stärksten vorangetrieben hat. Kommt sie zum Stillstand, dann ist das Ziel der Regierung, unseren Energiebedarf bis 2030 zu 65 Prozent und bis 2050 zu achtzig Prozent durch erneuerbare Energien zu decken, Makulatur. Die eigentliche Botschaft dieser Krise der Windwirtschaft lautet aber: Das Versprechen, alternative Energiequellen würden sicher und günstig Strom auf marktwirtschaftlicher Basis liefern können, war unrealistisch.

Fossile und Atomenergie haben durch Abgase oder Abfälle allerdings enorme Folgekosten, die Erneuerbaren dagegen nicht.

Wendt: Falsch, die gibt es auch bei den Erneuerbaren: Wegen der Netzschwankungen durch ihren „Zappelstrom“ sind, wie erklärt, ständig teure Eingriffe zur Stabilisierung nötig. Entweder muß überschüssige Energie abgeführt, also oft mit Verlust ins Ausland verkauft werden. Oder Unterversorgung wird durch teure Ankäufe konventioneller Energie aus dem Ausland ausgeglichen. Alternativ zahlt man etwa großen Stromfressern, wie Fabriken, eine Entschädigung, damit sie ihren Stromverbrauch drosseln. 2018 wurden 1,4 Milliarden Euro für solche netzstabilisierenden Eingriffe gezahlt – was auf die Verbraucher umgelegt worden ist. Das sind erhebliche systemimmanente Folgekosten. Und nochmals: Je mehr der Anteil der Erneuerbaren steigt, desto mehr dieser Eingriffe werden nötig. Und desto höher werden die Kosten, erst recht, wenn die Stabilisierung einmal mißlingt. 






Alexander Wendt, ist Autor des Buches „Der grüne Blackout. Warum die Energiewende nicht funktionieren kann“ (2014). Der Journalist ist Autor für Politik, Wirtschaft und Wissenschaft beim Nachrichtenmagazin Focus und schrieb zudem für etliche Zeitungen und Zeitschriften, wie etwa Tagesspiegel, Stern, Welt, Cato und Wirtschaftswoche. Außerdem ist der Träger des Axel-Springer-Preises und Gründer von Publico, dem Onlinemagazin „für Politik, Gesellschaft und Übergänge“. Er verfaßte mehrere Bücher, zuletzt erschienen von ihm: „Plantagen des Blöden. Kleines Wörterbuch der Definitionen und Phrasen“, „Du Miststück. Meine Depression und ich“ (beide 2016) sowie die vielfach gelobte Studie „Kristall. Eine Reise in die Drogenwelt des 21. Jahrhunderts“ (2018). Geboren wurde Alexander Wendt 1966 in Leipzig.

 www.alexander-wendt.com

 www.publicomag.com

Foto: Blitze und Dunkelheit über einer Windkraftanlage in Sachsen: „Eine wachsende Bedrohung durch systemimmanente Blackouts als Folge unserer Energiepolitik ... Denn es entstehen Schwankungen, wie es sie früher nicht gab ... (und) da der Anteil der Erneuerbaren auf achtzig Prozent erhöht werden soll, können Sie sich ausmalen, wie verwundbar unser Stromnetz wird“ 


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