© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/19 / 22. November 2019

„Bedrohung ist unverändert groß“
Terrorismus: Die Türkei schiebt frühere Kämpfer der Islamisten-Miliz nach Deutschland ab / Experten warnen vor Sicherheitsrisiko
Peter Möller

Die deutschen Sicherheitsbehörden sind in Alarmbereitschaft. In der vergangenen Woche hat die Türkei mit ihrer Ankündigung Ernst gemacht, inhaftierte mutmaßliche Anhänger der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS), die über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügen, nach Deutschland abzuschieben. Am Freitag abend landeten in Frankfurt am Main zwei Frauen, die mit IS-Kämpfern verheiratet sein sollen und die nach ihrer Flucht aus einem syrischen Gefangenenlager von türkischen Soldaten festgenommen worden waren. Am Tag zuvor war eine siebenköpfige Familie mit IS-Bezug aus der Türkei nach Deutschland abgeschoben worden. Sie war nach Angaben der Behörden im Januar aus Hildesheim in die Türkei gereist und dort im März inhaftiert worden. Nach der Landung wurde der Vater verhaftet, allerdings nicht wegen seiner mutmaßlichen Nähe zum IS, sondern wegen des Verdachts des gewerbsmäßigen Betruges.

Denn offenbar liegen in Deutschland keine Haftbefehle wegen Terrorverdachts gegen die zurückgekehrten deutschen IS-Verdächtigen vor, da die deutschen Ermittler nicht über ausreichende Erkenntnisse über sie verfügen. Derzeit sitzen in der Türkei elf weitere deutsche Staatsangehörige in Abschiebegewahrsam.

Doppelstaatlern den deutschen Paß entziehen

Nach Ansicht des früheren Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, hätte die Bundesregierung dafür sorgen können, daß zumindest einem Teil der Rückkehrer der Weg nach Deutschland versperrt geblieben wäre. Union und SPD hätten dazu wie im Koalitionsvertrag vorgesehen rechtzeitig eine Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts auf den Weg bringen müssen, sagte Maaßen der Bild-Zeitung. „Denn deutschen Doppelstaatlern, die für ISIS gekämpft haben, könnte längst die deutsche Staatsangehörigkeit auch wieder entzogen werden, sogar automatisch kraft Gesetzes wegfallen.“ Die Sozialdemokraten hätten eine derartige Regelung aber lange blockiert. „Diese Nachlässigkeit in der Verfolgung unserer genuinen Sicherheitsinteressen ist nicht zu verantworten, werden doch damit vermeidbare Zusatzlasten für unsere Sicherheitsorgane importiert, die kaum zu beherrschen sein werden.“

Wie aktuell die Gefahr durch den islamistischen Terrorismus in Deutschland ist, wurde ebenfalls in der vergangenen Woche deutlich. Am Dienstag nahm die Polizei drei Männer aus Offenbach unter dem Verdacht fest, einen islamistischen Terroranschlag vorbereitet zu haben. Den 21 bis 24 Jahre alten Männern wird von der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main vorgeworfen, im Rhein-Main-Gebiet eine „religiös motivierte Straftat“ mittels Sprengstoffes oder Schußwaffen mit dem Ziel, möglichst viele Menschen zu töten, geplant zu haben. Die Verdächtigen sollen sich Zeugen gegenüber als Anhänger der Terrormiliz Islamischer Staat zu erkennen gegeben haben. Während der Hauptverdächtige mittlerweile in Untersuchungshaft sitzt, wurden die anderen beiden Männer wieder auf freien Fuß gesetzt.

„Die Bedrohungslage in Deutschland ist unverändert hoch“, sagte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Thomas Haldenwang der Zeitschrift Europäische Sicherheit & Technik. Das islamistisch-terroristische Personenpotential beziffert er auf derzeit rund 2.170 Personen, unter ihnen auch Rückkehrer aus dem Nahen Osten. „Von den mehr als 1.050 nach Syrien und Irak ausgereisten deutschen Islamisten beziehungsweise Islamisten aus Deutschland befindet sich etwa ein Drittel wieder in Deutschland. Die Spanne bei der Einschätzung dieser Personen reicht von Desillusionierten bis hin zu gewaltbereiten Personen mit Kampferfahrung“, sagte der Verfassungsschutzchef. Zu über 110 bislang zurückgekehrten Personen lägen den Sicherheitsbehörden Erkenntnisse vor, wonach sie sich aktiv an Kämpfen in Syrien oder im Irak beteiligt hätten oder hierfür ausgebildet worden seien. Auch wenn Haldenwang versichert, daß diese Personen im Fokus der Behörden stünden: eine lückenlose Überwachung dieses Personenkreises rund um die Uhr bringen Polizei und Geheimdienste an den Rand ihrer Belastungsfähigkeit. Die Islamexpertin Susanne Schröter sieht die Lage daher auch wesentlich dramatischer als der zurückhaltende Behördenchef. „Mit der Zahl der IS-Rückkehrer steigt das Risiko für Anschläge“, sagte sie der FAZ-Woche. „Das sind Leute, die sich freiwillig einer barbarischen Miliz angeschlossen haben.“

Doch die Rückkehrer sind nicht das einzige Problem. Seit 2011 hat sich die Zahl der Salafisten in Deutschland, also jener extremistischen Auslegung des Islam, aus deren Kreis praktisch alle in das Kriegsgebiet ausgereisten Islamisten aus Deutschland stammen, nahezu verdreifacht: Von 3.800 auf 11.300 im vergangenen Jahr. Auch wenn nicht alle Islamisten gewalttätig sind: Eine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung kann trotzdem von ihnen ausgehen, wie das Beispiel der Muslimbruderschaft zeigt. So warnt beispielsweise der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz in seinem jüngsten Bericht vor dem Erstarken des sogenannten legalistischen Islamismus, der darauf zielt, den Staat im Sinne der Scharia umzubauen. Mit anderen Worten: Die Verfassungsordnung soll in letzter Konsequenz gewaltlos beseitigt werden.

„Die Strategie der Muslimbrüder ist langfristig ausgerichtet und geschickt verschleiert“, sagt NRW-Verfassungsschutzchef Burkhard Freier der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sie schleusten meist unbemerkt einen politischen Islam mit einer völlig anderen Vorstellung von Demokratie in den muslimischen Teil der Gesellschaft ein. „Die Gefahr besteht, daß die Weltanschauung der Muslimbrüder, die Religion und Staat als Einheit begreifen, unter Muslimen zum Mainstream wird.“ Das berge Gefahren: „Extremistische Ideologie kann immer auch zum Nährboden für mehr Gewalt werden“, warnt Freier und macht deutlich, daß es sich bei dieser Bewegung nicht um eine Randerscheinung handelt: Allein in Nordrhein-Westfalen erreicht die Muslimbruderschaft nach Angaben des Verfassungsschutzes durch Veranstaltungen und Predigten mittlerweile Tausende Personen. 





Blutiges Jubiläum 

Vor 40 Jahren, am 20. November 1979, stürmten Hunderte Schwerbewaffnete die Große Moschee in Mekka, nahmen Tausende Besucher als Geiseln und forderten den Sturz des saudischen Königshauses sowie einen Gottesstaat. Erst zwei Wochen später gelang den Saudis die Befreiung. Für die Zustimmung der Religionsgelehrten zum Kampf gegen die Terroristen mußte der König Zugeständnisse an den radikalen wahhabitischen Islam machen. Davon profitieren bis heute weltweit Salafisten und Dschihadisten.