© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/19 / 22. November 2019

„Ohne Evo hätte ich nie Karriere gemacht“
Bolivien: Nach der Flucht von Langzeitpräsident Morales herrscht Chaos / Außenpolitische Kehrtwende?
Jörg Sobolewski

Wenn Nachrichten aus Bolivien den Zeitungsleser in Europa erreichten, handelte es sich meist um die Lithiumgewinnung – den für E-Autos unverzichtbaren Rohstoff – oder Vorgänge rund um Evo Morales. Der Präsident verkörperte das Wunschbild europäischer Sozialisten: Stets fest und treu an der Seite Kubas und Venezuelas sowie in Opposition zu Papst und US-Präsident fiel es linken Schwärmern leicht, über die Schattenseiten des ersten Indio-Präsidenten hinweg zu sehen.

Bis jetzt, denn nach heftigen Demonstrationen gegen das Ergebnis der umstrittenen Präsidentschaftswahl am 20. Oktober dieses Jahres trat der zum Wahlsieger gekürte, aber von weiten Teilen der Bevölkerung nicht anerkannte Präsident unter dem Druck von Polizei und Teilen der Bevölkerung zurück (JF 47/10). Seitdem schmollt der 60jährige im mexikanischen Exil und ruft seine zahlreichen Anhänger über die sozialen Netzwerke zum Durchhalten auf.

Polizei und Militär als „unparteiische Kraft“?

Selbst Landeskennern fällt es schwer zu überblicken, was in den Tagen zwischen der Präsidentschaftswahl und Morales’ Rücktritt am 10. November genau vorgefallen ist. Die Faktenlage ist dünn: Nach tagelangen, heftigen Protesten vor dem Präsidentenpalast in La Paz zog sich die zuständige Spezialeinheit der bolivianischen Polizei von ihren Posten vor dem Regierungssitz zurück. Ermüdet und desillusioniert erklärten die Offiziere der Einheit ihre Solidarität mit den Protestierenden. Der nun schutzlose Präsident wandte sich an das von ihm stets gegenüber der Polizei bevorzugte Militär, um von dort ebenfalls Ablehnung signalisiert zu bekommen. 

Man sehe sich als „unparteiische Kraft“ und empfehle ebenfalls den Rücktritt, um „Gewalt und Eskalation“ zu verhindern. Morales erklärte daraufhin diesen und floh in einem Flugzeug der mexikanischen Luftwaffe. Die zweite Vizepräsidentin des bolivianischen Senats, die 52jährige konservative Juristin und Morales-Kritikerin Jeanine Áñez Chávez, übernahm daraufhin die Regierungsgewalt und gilt seitdem als Interimspräsidentin. Seit ihrer Amtseinführung am 12. November erschüttern Zusammenstöße zwischen Unterstützern der Übergangsregierung und des zurückgetretenen Morales das Land.

Wer versucht zu den Ursachen für diese Eskalation vorzustoßen, muß in der Geschichte der Andenrepublik – eingeklemmt zwischen Brasilien, Argentinien, Chile und Peru – suchen. Bolivien ist das Armenhaus Südamerikas (BIP pro Kopf: 3.549 Dollar – knapp von Angola und Tunesien), es hat jeden Krieg in seiner Geschichte verloren. Es leistet sich aber eine Marineinfanterie, als Erinnerung an den im Salpeterkrieg mit Chile (1879–83) verlorengegangenen Meereszugang. Es ist geprägt von einer Indiomehrheit im Hochland und einer Mestizenmehrheit im Tiefland. Bis 2005 stellte ein Angehöriger der kleinen, mehrheitlich weißen Oberschicht, den Präsidenten. Doch dann kam Morales und mit ihm eine radikale Veränderung des elf Millionen Einwohner zählenden Binnenstaates, der aber doppelt so groß ist wie Frankreich. Der ehemalige Cocabauer Morales gewann die Präsidentschaftswahlen 2006 bereits im ersten Wahlgang mit 54 Prozent der Stimmen.

Der bodenständig im indigenen Strickpullover auftretende Morales versprach „500 Jahre Unterdrückung zu beenden“. Er verstaatlichte Öl- und Gasunternehmen und band seine Regierung eng an Venezuela, Kuba und China. Morales’ Amtsvorgänger – etwa der deutschstämmige General Hugo Banzer Suárez oder noch mehr Gonzalo Sánchez de Lozada – standen für enge Beziehungen zu den USA. Kuba hat schon den Abzug des 700köpfigen medizinischen Personals, das bisher in Bolivien tätig war, angekündigt. Die Übergangsregierung hatte die Kubaner beschuldigt, die anhaltenden Proteste gegen die Áñez-Amtsübernahme zu unterstützen.

Lange Jahre konnte Morales auf die Unterstützung der Indianer bauen, seine Politik verschaffte dem Armenhaus eine der höchsten Wirtschaftswachstumsraten Südamerikas. Auf das Militär als Stütze seiner Macht konnte Morales zählen. Unter seiner 13jährigen Präsidentschaft stieg der Anteil indigener Offiziere sprunghaft an. Zu den damals Geförderten gehört auch der junge Major Efraín J. Der 35jährige kommandiert eine Kompanie der bolivianischen Marineinfanterie und stammt aus bescheidenen Verhältnissen. „Ohne Evo hätte ich nie Karriere machen können“,  bekennt er freimütig. Dennoch unterstützt Efraín die Übergangsregierung: „Es ist unsere Aufgabe als Soldaten, für Sicherheit und Stabilität des Landes zu sorgen. Wir dienen Bolivien, nicht Evo Morales oder der Opposition.“

„An das Gesetz hat sich dieser Bandit nie gehalten!“

Ob er denn auch eine persönliche Meinung hätte? Der Offizier räuspert sich und holt aus: „Alles hat seinen Ursprung in dem Referendum am 21. Februar 2016. Evo Morales wollte eine vierte Amtszeit und mußte dafür die Verfassung ändern lassen. Das wäre mit einem Referendum gegangen, allerdings hat er dieses damals verloren. Selbst viele Indigene haben damals gegen ihn gestimmt. Danach ist er größenwahnsinnig geworden und versuchte mit einer Klüngelei den Verfassungsgerichtshof dazu zu bringen die Verfassung außer Kraft zu setzen, und die haben das tatsächlich mit Verweis auf die Menschenwürde des Präsidenten getan.“

Efraín lacht und fährt fort: „Seitdem gab es eigentlich ununterbrochen Widerstand, und als nun die Wahlkommission die Auszählung der Stimmen ohne Begründung unterbrochen hatte, ging eigentlich jeder von Wahlbetrug aus. Das Ergebnis ist bekannt.“ Aber ob er denn Morales nicht auch zum Dank verpflichtet sei? Sicher, der Präsident habe das Land nach vorn gebracht, aber Amtszeitbeschränkungen hätten ihren Sinn und niemand – auch nicht der Präsident – stünde über dem Gesetz.

„An das Gesetz hat sich dieser Bandit nie gehalten!“, zürnt eine zierliche grauhaarige Frau, die seit Monaten gegen Morales demonstriert: „Er hat Drogenbaronen Schutz geboten und sie unter unserer Fahne ihren Handel betreiben lassen!“ Maria nennt sie sich, sie stammt aus der konstitutionellen Hauptstadt Sucre, tiefer gelegen als der indigen geprägte Regierungssitz La Paz. Mit Jeanine Áñez sei auch „die Bibel in das Parlament zurückgekehrt“. Tatsächlich hat die Übergangspräsidentin als erste Amtshandlung die Präsidentenbibel in das Parlament zurückbringen lassen. Ein klarer Bruch mit Morales: Als Indio verehrte er lieber die Aymara-Göttin Pachamama als den Gott der Christen.

Ein klares Zeichen, findet David, der seinen Namen ebenfalls nicht in der Zeitung lesen will: Jeanine Áñez sei „eine Putschistin im Auftrag der alten Eliten. Sie will die Entwicklung zurückdrehen und hat dazu die Unterstützung von Militär und Polizei“. Er ist der aus zweitgrößten Stadt Boliviens, El Alto, auf über viertausend Metern gelegen, herabgekommen, um gegen die neue Regierung zu demonstrieren. Viele sind mit ihm gekommen, einige mit Stöcken und Steinen bewaffnet. „Wir bereiten uns auf einen Bürgerkrieg vor“, ruft er bevor er mit seiner Gruppe weiterzieht.

Tatsächlich haben die Konflikte in einigen Teilen des Landes bürgerkriegs­ähnliche Zustände erreicht. In der Hochburg des Cocaanbaus und politischen Wiege von Morales, der Großstadt Sacaba, kam es nach gewalttätigen Protesten zu acht Todesopfern, nachdem die Polizei das Feuer auf die Demonstranten eröffnet hatte. Lange schwelende Konflikte in der bolivianischen Gesellschaft brechen im Zuge des aktuellen Konfliktes auf besonders gefährliche Weise auf. Es wird auch an der Besonnenheit der jungen Militärs des Landes liegen, ob sich diese in einem Bürgerkrieg entladen. Efraín rechnet mit „schwierigen Weihnachten“, bevor er sich verabschiedet.

Offizielle Informationen über Bolivien: www.bolivia.de