© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/19 / 22. November 2019

Es gibt keine Garantie auf objektive Erkenntnis
Dialog zwischen Wissenschaft und Religion: Eine Tagung der Evangelischen Akademie Hofgeismar widmete sich der Frage von Realität und Wirklichkeit
Daniel Körtel

Es war der spirituelle Höhepunkt der Tagung „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ der Evangelischen Akademie Hofgeismar am zweiten November-Wochenende, als Pfarrerin Christina Schnepel in ihrer sonntäglichen Andacht anhand der von dem russischen Künstler Andrej Rublev gestalteten Ikone der Heiligen Dreifaltigkeit über die „gottesdienliche und lebensdienliche“ Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit reflektierte, die sich beim Betrachten dieses Kunstwerkes dem Gläubigen eröffne – Kunst als Zugang zu ewigen Wahrheiten.

Über die Realität und die aus ihr durch unsere Wahrnehmung entstehende Wirklichkeit hat die Hirnforschung in den vergangenen Jahrzehnten rasante Fortschritte gemacht. Diesen neuen Kenntnissen und den Fragen, die sich daraus für den christlichen Glauben ergeben, ging diese Tagung im interdisziplinären Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie nach.

Der prominenteste Referent, der Hirnforscher Gerhard Roth, stellte in seinem Vortrag „Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit“ den Neurobiologischen Konstruktivismus vor, dem zufolge unser Gehirn aus in Nervenimpulse übersetzte Signale aus unserer Umwelt die so wahrgenommene Wirklichkeit konstruiert. Der Wahrheitsgehalt der so erzeugten Konstrukte könne von uns nicht verläßlich überprüft werden, denn dies würde einen Zugang zur bewußtseins-unabhängigen Welt erfordern, den es nicht gibt, und daran könne auch die Wissenschaft nichts ändern. Alle Aussagen über die Existenz einer Realität seien Hypothesen unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsgrades, aber niemals objektive Gewißheiten beziehungsweise Wahrheiten. Somit gäbe es auch keine Garantie auf objektive Erkenntnis.

 „Der Mensch denkt, nicht das Gehirn“ 

Wie eine Bestätigung dessen wirkte der als Kontrapunkt zur Roth vorgestellte Vortrag des Mediziner und Philosophen Thomas Fuchs. In seiner Kritik des von ihm als reduktionistisch verworfenen Neurokonstruktivismus setzte er dem seine ökologische Konzeption des Gehirns als Beziehungsorgan entgegen: „Der Mensch denkt, nicht das Gehirn.“ Ohne den Körper und seine Umwelt gebe es kein funktionierendes Gehirn. Nur im tatsächlichen, verkörperten Kontakt mit der Umwelt komme Wahrnehmung zustande. Weder das Gehirn noch das Bewußtsein ließen sich vom Körper trennen. Entsteht das Subjekt im Gehirn? „Nein“, sagt Fuchs, „Personen haben Gehirne, sie sind sie nicht.“

Auf die praktische Ebene der Bildwelt brach der Fotograf Stephan Wiesner das Thema herunter, der in seinen Arbeiten darlegte, wie verschieden die Wirklichkeit durch ein Foto dargestellt werden kann. Die Interpretation eines Bildes sei immer abhängig von seinem Kontext und dem individuellen Hintergrund des Betrachters. Jede veränderte Zusatzinformation könne hierbei eine vollkommen neue Perspektive eröffnen. Allzu wohlwollend wirkte Wiesners Versicherung, daß die Fotos in den Zeitungen die Wirklichkeit abbilden würden und Journalisten Fotos nicht manipulieren dürfen.

Wissensvermittlung an Schulen vertiefen

Ausgebildet in den Naturwissenschaften wie in der Theologie bot sich Frank Vogelsang als Brückenbauer zur Religion an. In seinem Vortrag „Gottes Wirklichkeit. Warum die Rede von Gott von der Wirklichkeit handelt“ gab er einen Überblick, wie seit Beginn der Neuzeit die sich formierenden Naturwissenschaften den Gottesglauben in den subjektiven Bereich des Einzelnen verschoben. Somit mußte sich die Theologie neu orientieren. Ausdrücklich begrüßte Vogelsang die Naturwissenschaften als „Befreier der theologischen Rede“, die Gott früher als Garanten der Weltordnung gesehen habe. Doch Aufgabe der Theologie sei es nicht, „die Welt zu erklären, sondern immer wieder Gott zu bezeugen“.

Roths Neurobiologischen Konstruktivismus aufgreifend, stellte der Erziehungswissenschaftler Heinz Klippert die neuesten Erkenntnisse zur Wissensvermittlung an den Schulen vor. Die gängigen Kommunikationstheorien über Wissenstransfers durch Sender und Empfänger hierzu verwerfend, betonte er, daß Wissen im Gehirn eines jeden Schülers erzeugt werden müsse. Die bisherigen Methoden erzeugten viel vergängliches Oberflächenwissen. Seine Methodik besteht in von Lehrern eingefädelten Konstruktions- und Rekonstruktionsarbeiten der Schüler, die den Wissensstoff in zufälligen Paar- und Gruppeneinheiten eigenständig vertiefen sollen. So sympathisch sich Klipperts Methode anhört, es fiel auf, daß in seinem gesamten Vortrag die Bedeutung der Intelligenz des einzelnen Schülers keine Rolle spielte.

Die Frage nach der Realität und der Wirklichkeit und dem Platz Gottes darin bleibt auch nach dieser Tagung weiter offen. Die vermutlich poetischste Annäherung brachte eine Teilnehmerin mit einem Zitat aus den wedischen Schriften des Sanskrit, dem sich wohl kaum eine andere Denomination verschließen würde: „Gott schläft in den Steinen, atmet in den Pflanzen, träumt in den Tieren und erwacht im Menschen.“