© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/19 / 22. November 2019

Zehn Punkte für Helmut
Am 28. November 1989 überraschte Bundeskanzler Kohl mit einem unverbindlichen Fahrplan für eine deutsche Wiedervereinigung
Karlheinz Weißmann

Das Datum des 28. November 1989 markiert eine Zäsur in der Entwicklung zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung. Davon wußten die Zeitgenossen nichts. Wie jede historische Einsicht wurde auch diese erst rückblickend gewonnen. 

Welche Perspektiven damals, kaum drei Wochen nach der Grenzöffnung, denkbar schienen, zeigt vor allem ein Dokument, das an diesem Tag veröffentlicht wurde und auf erhebliche Resonanz stieß. Gemeint ist der Aufruf „Für unser Land“. Der Inhalt spiegelte die Vorstellungen großer Teile der DDR-Intelligenz wider, von den Halboppositionellen wie Christa Wolf und Stefan Heym bis zu den Bürgerrechtlern wie Ulrike Poppe und Konrad Weiß. Zwei Tag zuvor abgefaßt und von Christa Wolf formuliert, hatten einunddreißig Personen mit ihrer Unterschrift erklärt, daß sie die Forderung nach Aufrechterhaltung der Eigenstaatlichkeit der DDR unterstützten, aber eine demokratische und ökologische Erneuerung forderten, um in „humanistischer“ und „antifaschistischer“ Tradition eine „sozialistische Alternative zur Bundesrepublik“ zu schaffen. Im Grunde handelte es sich um einen weiteren Versuch, den „Dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus einzuschlagen, der damals großen Teilen der deutschen Linken beiderseits der Grenze attraktiv erschien.

Hinzu kam im Westen ein ausgesprochen antinationaler Affekt. Erich Böhme, der damalige Chefredakteur des Spiegels, brachte die Grundhaltung der Progressiven knapp auf die Formel: „Ich möchte nicht wiedervereinigt werden.“ Allerdings verkannte er, wie einsam er mit dieser Position geworden war. Bei den großen Demonstrationen in den Städten der DDR, die sich während des ganzen Spätherbstes 1989 fortsetzten, trat zunehmend an die Stelle der Parole „Wir sind das Volk“ die Parole „Wir sind ein Volk“. Der Wunsch nach nationaler Einheit war für die Massenbasis der Opposition zwar nicht von vornherein der wichtigste, gewann aber immer mehr Bedeutung. Der Anteil der Befürworter einer Wiedervereinigung stieg in der DDR zwischen dem November 1989 und dem Februar 1990 von 48 auf 79 Prozent der Befragten. Die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung teilte diesen Wunsch. Nur die Meinungseliten waren ganz anderer Auffassung, polemisierten gegen den „Anschluß“ und bezeichneten sich stolz als „vaterlandslose Gesellen“.

Wie sich die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Helmut Kohl angesichts dessen verhalten werde, war deshalb schwer zu sagen. Kohls Neigung zum Aussitzen ließ jedenfalls kaum erwarten, daß er an demselben 28. November, im Rahmen der Haushaltsdebatte des Parlaments, einen Zehn-Punkte-Plan vorstellen würde, der einen stufenweisen Prozeß der Annäherung zwischen beiden deutschen Staaten vorsah und dessen Endziel die Wiedervereinigung sein sollte. 

Als erste Stufe dieses Programms waren Sofortmaßnahmen zur Stützung der DDR vorgesehen, um einen Systemkollaps mit chaotischen Folgen zu verhindern. Dann ging es um Maßnahmen zwecks Stärkung der innerdeutschen Zusammenarbeit, begleitet von politischen und wirtschaftlichen Reformen in der DDR. Erst danach sollte der Weg frei sein zur Bildung einer Konföderation aus Bundesrepublik und DDR, und im Rahmen der Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit war zuletzt an die Herstellung der staatlichen Einheit gedacht.

Genscher sprach sich gegen Wiedervereinigung aus

Klugerweise enthielt der Zehn-Punkte-Plan keine Aussagen zur Frage der Westintegration eines wiedervereinigten Deutschlands oder zur Nato-Mitgliedschaft. Ganz bewußt hatte Kohl auch auf Zeitvorgaben verzichtet. Damit verbunden war die Absicht, weder bei den eigenen Alliierten noch bei der sowjetischen Führung den Eindruck zu erwecken, daß man Druck ausüben wolle. Diese Rücksichtnahme schien schon deshalb notwendig, weil Kohl bei der Vorbereitung seines Programms nicht nur die eigene Fraktion und den Koalitionspartner FDP, sondern auch die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs übergangen hatte, die noch immer Vorbehaltsrechte im Hinblick auf alle Fragen geltend machen konnten, die „Deutschland als Ganzes“ betrafen.

Kohl hat die Geheimhaltung mit der Sorge gerechtfertigt, daß sein Projekt vorzeitig bekannt werden würde oder man es in irgendwelchen Gremien „zerredet“ hätte. Was die Freien Demokraten anging, gab es besonderen Grund zum Mißtrauen. Das betraf vor allem den Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der gegenüber seinem britischen Amtskollegen Douglas Hurd zugesichert haben soll, die gefährliche Debatte über eine Wiedervereinigung zu unterbinden. Mit dieser Haltung war Genscher nicht sehr weit entfernt von dem, was die tonangebenden Kreise der Bundesrepublik über Kohls Plan dachten; das Spektrum reichte vom Vorwurf der Grünen, er gebe sich reaktionären „Einheitsphantasien“ hin, bis zur Feststellung des SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine, der Zehn-Punkte-Plan sei ein „großer diplomatischer Fehlschlag“. 

Damit war allerdings ein wunder Punkt berührt. Denn Kohls Vorstoß schien für den Moment tatsächlich die Gefahr zu bergen, die Bundesrepublik außenpolitisch zu isolieren. Zwar hatte der US-Präsident George Bush das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen grundsätzlich anerkannt und auch der sowjetische KP-Chef Michail Gorbatschow seine prinzipielle Bereitschaft signalisiert, über eine Wiedervereinigung zu sprechen, aber in Paris und London, gar nicht zu reden von Warschau, gab es Kräfte, die willens waren, alles mögliche zu tun, um das zu verhindern, was man als Wiederkehr der „deutschen Gefahr“ betrachtete.

Thatcher plante sogar eine „Achse“ mit Frankreich 

Schon am 31. Oktober 1989 hatte die Times einen Artikel des Historikers und Diplomaten Conor Cruise O’Brien abgedruckt, der vor der Erstehung eines „Vierten Reiches“ warnte. Seine Perspektiven waren entsprechend düster. Entweder komme es dazu, „daß ein wiedervereinigtes Deutschland die schwarz-weiß-rote Hohenzollernfahne wieder einführen wird und möglicherweise mit ihr auch den Hohenzollernkaiser“, oder aber, und wahrscheinlicher, der Nationalsozialismus erwache zu neuem Leben: „Vertreibung der Juden, Bruch der Beziehungen mit Israel, eine Militärmission der PLO, eine Hitler-Statue in jeder Stadt“. O’Briens Formulierungen waren drastisch, aber mit seiner Beurteilung der Situation stand er keineswegs allein. 

Die britische Premierministerin Margaret Thatcher hat in ihren Memoiren offen zugegeben, daß sie im Dezember 1989 an die Schaffung einer „Achse“ London-Paris dachte, um „dem deutschen Moloch Einhalt gebieten“ zu können, was nichts anderes bedeutete, als die Wiedervereinigung zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Im Dezember 1989 traf sie sich zweimal im Geheimen mit dem französischen Staatspräsidenten François Mitterrand, um entsprechende Schritte zu vereinbaren. Dabei habe Mitterrand geäußert, daß die Deutschen eine unkalkulierbare Größe bildeten und in ihrer Geschichte noch niemals ihre „wahren Grenzen gefunden“ hätten. Woraufhin Margret Thatcher aus ihrer Handtasche eine Landkarte holte, auf der Deutschland in seinen verschiedenen Ausdehnungen während der Vergangenheit abgebildet war, was man beiderseits als ausgesprochen beunruhigend empfand.

Allerdings erwies sich die Beschwörung der alten Gespenster zuletzt doch als wirkungslos. Das lag zum einen daran, daß sich Gorbatschow nicht, wie von Thatcher und Mitterrand erwartet, auf ihre Seite stellte, und die Vereinigten Staaten deutlich machten, daß sie das Recht der Deutschen auf nationale Selbstbestimmung „unbeschadet ihrer Konsequenzen“ anerkannten und mit der Wiedervereinigung einverstanden waren, wenn diese schrittweise vollzogen werde. Entsprechend hatte sich US-Außenminister James Baker schon Anfang Dezember 1989 gegenüber Journalisten geäußert und damit offenbar auch die Position des Präsidenten George Bush vertreten.

Kohl durfte also davon ausgehen, daß er für den Zehn-Punkte-Plan die Rückendeckung der westlichen Vormacht besaß. Allerdings kamen ihm schon drei Wochen nach der Veröffentlichung erhebliche Zweifel im Hinblick auf dessen Realisierbarkeit. Denn die Annahme einer längeren Übergangsphase bis zur Herstellung der deutschen Einheit war offenbar falsch gewesen. Das, äußerte Kohl später, habe er am 19. Dezember 1989 begriffen, während des Treffens mit Hans Modrow, dem neuen Ministerpräsidenten der DDR. Die Bevölkerung von Dresden hatte ihm einen begeisterten Empfang bereitet, und nach seiner improvisierten Rede vor einer riesigen Menge, die sich an der Frauenkirche versammelt hatte, wurde immer wieder „Deutschland, einig Vaterland!“ skandiert. 

In der Folge ließ Kohl den Zehn-Punkte-Plan sang- und klanglos in der Versenkung verschwinden, und dieselben Kritiker, die ihm wegen seines Konzepts massive Vorwürfe gemacht hatten, hielten ihm jetzt vor, seine eigenen Vorgaben nicht ernst zu nehmen. Bei nüchterner Betrachtung zeigt sich allerdings, daß in dieser Entschlossenheit, die neue Lage zu erkennen und entsprechend zu handeln, tatsächlich etwas von jener staatsmännischen Größe lag, die Kohl so gerne in Anspruch nahm, wenn er sich auf das Bismarck-Wort berief: „Man soll nur immer darauf achten, ob man den Herrgott durch die Weltgeschichte schreiten sieht, dann zuspringen und sich an seines Mantels Zipfel klammern, daß man mit fortgerissen wird, so weit es gehen soll.“