© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/19 / 22. November 2019

Verzweifelte Abwehr im Schnee
Vor achtzig Jahren überfiel die Sowjetunion Finnland / Hartnäckiger Widerstand konnte die staatliche Selbständigkeit bewahren
Jürgen W. Schmidt

Am 26. November 1939 um 15.45 Uhr schlugen auf der Karelischen Landenge beim etwa zwanzig Kilometer von der sowjetisch-finnischen Grenze entfernten Dorf Majnila fünf bis sieben Granaten ein, welche angeblich vier Rotarmisten töteten und neun weitere verwundeten. Ihre Namen sind nie bekannt geworden, so daß gewisse Zweifel an der Realität jenes vorgeblich finnischen Feuerüberfalls bestehen. Die Finnen behaupteten jedenfalls damals und auch später, nie eigene Artillerie in Reichweite von Majnila aufgestellt zu haben. 

Ein Artikel in der russischen Zeitschrift Rodina (Nr. 12/1995), welcher sich auf Erinnerungen des damaligen Majors des sowjetischen Geheimdienstes und späteren Generals Okunevic stützte, besagt, daß jener Geheimdienstler seinerzeit mit zwei sowjetischen Ballistikexperten und 15 Kanonieren jenen Feuerüberfall mittels zweier sowjetischer Geschütze auf höheren Befehl selbst verursachte. Stalin hatte sich im Jahr 1938 entschlossen, angesichts der rapide gestiegenen quantitativen Stärke der Roten Armee die Periode „friedliebender Außenpolitik“ zu beenden und in passender Situation mit geballter Faust zuzuschlagen. Zuerst bekam dies im fernen Osten die regionale Großmacht Japan am Chassansee 1938 (JF 31-31 18) und im September 1939 Polen zu spüren.

Finnland wurde von Stalin 1939 erpreßt und genötigt

Das der Sowjetunion benachbarte Finnland gehörte seit 1938 zu den nächsten Annexionszielen Stalins. Nach persönlicher Instruktion durch Stalin im April 1938 wurde der sowjetische Diplomat und Geheimdienstresident in Finnland Boris Rybkin hinter dem Rücken des eigenen Botschafters bei den finnischen Regierungsbehörden vorstellig. In mehrmonatigen Geheimgesprächen versuchte er den Premierminister Aimo Cajander und seinen Außenminister davon zu überzeugen, daß die Sowjetunion Kenntnis von einer bevorstehenden deutschen Seelandung in Finnland habe. Deutschland wolle Finnland militärisch besetzen und anschließend von finnischem Territorium aus die Sowjetunion angreifen. 

Davor könne Finnland nur der Abschluß eines Freundschaftsvertrages und die Stationierung von kampfstarken Verbänden der Roten Armee in Finnland retten. Als man in Finnland höflich vorgab, nicht ganz an diese Räuberpistole glauben zu können, folgten weitere sowjetische Vorschläge zur „Erhaltung der finnisch-sowjetischen Freundschaft“. So sollte sich Finnland zu einer erheblichen Zurückverlegung der finnischen Grenze auf der Karelischen Landenge an die Sowjetunion bereit erklären, weil man ansonsten von diesem Territorium aus mit weitreichenden Geschützen Leningrad beschießen könne. Auch hierauf ließ man sich seitens Finnlands nicht ein, obwohl die Sowjetunion zum Ausgleich ein flächenmäßig doppelt so großes Territorium in Karelien anbot. Nur „übersah“ man sowjetischerseits, daß Finnland dicht besiedeltes, kultiviertes Territorium aufgeben sollte, während die Ausgleichsfläche unbesiedelt und nur von Birkenwäldern bewachsen war. Schließlich war Stalins Geduld mit Finnland am Ende und er orientierte ab Mitte Oktober 1939 auf eine militärische Lösung der Streitigkeiten mit Finnland – in der Gewißheit, daß deutsche Gegenmaßnahmen aufgrund der im Molotow-Ribbentrop-Vertrages festgelegten Interessensphären kaum zu erwarten waren.

Am 29. Oktober 1939 präsentierte der Stab des Leningrader Militärbezirks dem Volkskommissar für Verteidigung, Marschall Kliment Woroschilow, den „Plan der Operation zur Zerschlagung der finnischen Land- und Seestreitkräfte“. Die sowjetische Kriegsflotte unter Flottenminister Admiral Nikolai Kusnezow war gleichfalls ab 3. November 1939 zum militärischen Vorgehen gegen Finnland bereit. Ab Mitte November 1939 nahm die sowjetische Angriffsgruppierung gegen Finnland ihre Ausgangsstellungen ein, und die sowjetischen Luftstreitkräfte begannen mit Aufklärungsflügen über Finnland.

Unmittelbar nach dem Majnila-Zwischenfall lief in der Sowjetunion eine gewaltige Propagandamaschine an. Auf Massendemonstrationen verlangten aufgeputschte Sowjetbürger wunschgemäß von ihrer Regierung, auf die finnische Provokation mit einem dreifachen Schlag zu beantworten und „diese schändliche Bande zu vernichten“. 

Die finnische Regierung suchte am 27. November zu deeskalieren, indem man in einer diplomatischen Note die Sowjetregierung bat, den Vorfall auf eventuelle Fehlschüsse sowjetischer Artillerie hin zu prüfen. Außerdem schlug Helsinki vor, entlang der Grenze die beidseitigen Truppen um mehrere Kilometer zurückzuziehen zwecks Vermeidung bewaffneter Zwischenfälle. 

Schwere Verluste der Roten Armee gegen die Finnen

Als man keinerlei zur Deeskalation neigende Reaktion der Sowjetunion wahrnahm, schlug die verzweifelte finnische Regierung schließlich am 29. November 1939 vor, einseitig ihre Truppen 20 bis 25 Kilometer von der Grenze zurückzuziehen. Doch an Deeskalation hatte Stalin kein Interesse, und so verbreiteten die staatlichen Medien in Moskau die Falschmeldung, in den frühen Morgenstunden des 30. November 1939 habe finnische Infanterie an zwei Stellen die sowjetische Grenze angriffsweise überschritten. 

Folgerichtig überschritten die vorderen Teile der sowjetischen Angriffsgruppierung nach vorangegangener Artillerievorbereitung am 30. November 1939 um 8.30 Uhr die finnische Grenze. Obwohl die Finnen sich nach mehrmonatiger tapferer Verteidigung, bei der die zahlenmäßig und materiell hoffnungslos unterlegene Truppe unter General Carl Gustav Mannerheim der Roten Armee gewaltige Verluste beibrachte, schließlich im März 1940 geschlagen geben mußte, gelang es Finnland, seine staatliche Selbständigkeit zu behaupten und die drohende „Sowjetisierung“ zu vermeiden (JF 12/15). Allerdings wogen die territorialen Verluste vor allem in Karelien schwer. Fast 500.000 der insgesamt dreieinhalb Millionen Finnen verloren dabei ihre Heimat.

Die offenkundige strategische Schwäche und die hohen Verluste erschütterten den Nimbus der bis dahin als modern und gut gerüstet geltenden Roten Armee. In einem internen Bericht der deutschen Wehrmachtsführung wurde nach dem Winterkrieg analysiert, daß die sowjetischen Streitkräfte trotz ihrer quantitativen Stärke „gegen eine gut geführte Armee chancenlos“ seien.