© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/19 / 22. November 2019

Den Kapitalismus „progressiv“ vor sich selbst retten
Das neoliberale Wohlstandsversprechen: Für den US-Ökonomen Joseph E. Stiglitz die Mutter aller Fake News
Dirk Glaser

Wer sich von den Herrschenden unserer Tage weismachen läßt, die zunehmende Unzufriedenheit mit den von ihnen geschaffenen Verhältnissen läge nicht an ihrer Politik, sondern an den Gesellschaften aus purer Bösartigkeit spaltenden Populisten, der glaubt auch, am schlechten Wetter sei das Barometer schuld. Allerdings dürfen die Mächtigen seit langem auf eine solche stattliche Zahl Einfältiger vertrauen – 87 Prozent der vermeintlich mündigen Bürger gehörten bei der Bundestagswahl 2017 dazu –, denen sie ihre gemeingefährliche Katastrophenpolitik für hohe Regierungskunst verkaufen können.

Der Ökonomieprofessor Joseph E. Stiglitz, 2001 ausgezeichnet mit dem Wirtschaftsnobelpreis, spürt die Mutter all dieser Lügen, mit denen die in die Grütze gefahrenen Eliten sich heute Gefolgschaft sichern müßten, in den 1970ern auf. Damals, als das „Experiment mit dem Neoliberalismus“ begann, das jetzt „erwiesenermaßen in jeder Hinsicht gescheitert“ sei, wie er in einem Beitrag für die linksliberalen Blätter für deutsche und internationale Politik (10/2019) resümiert. Damals hätten die Sachwalter des finanzkapitalistischen Marktfundamentalismus wie Ronald Reagan und Margaret Thatcher wohl zu ihrer eigenen Verblüffung erfahren, wie leicht es doch ist, mit Märchen Politik gegen elementare Interessen offenbar stets wundergläubiger Massen durchzuboxen. Nur darum verfing die Meisterlüge, „daß ungezügelte Märkte durch einen geheimnisvollen Sickereffekt von oben nach unten allen Wohlstand bringen würden“. 

Systemkrise der westlichen Zivilisation droht

Stattdessen habe sich hinter der Nebelwand dieser propagandistischen Vorläufer moderner obrigkeitlicher Fake- News-Produktion die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter geöffnet, sei der Sozialabbau forciert, der Mittelstand geschrumpft, die Arbeitslosigkeit in die Höhe getrieben, der Niedriglohnsektor ausgeweitet worden. Daher, und nicht vom „populistischen“ Popanz, rühre die „Explosion der öffentlichen Unzufriedenheit, die der Westen in den letzten Jahren erlebt hat“ und die „Ausdruck ist eines wachsenden Gefühls der wirtschaftlichen und politischen Ohnmacht der Bürger, die ihre Chancen auf ein Leben in der Mittelschicht schwinden sehen“. 

Ändere sich das eingefahrene Muster dieser surrealen Politik nicht, würde sich „die Lage noch verschlimmern“. Chronische Schulden- und Finanzkrisen, deren Auswirkungen die fragilen Volkswirtschaften bedrohen, dürften gleichsam in eine Systemkrise der westlichen Zivilisation münden. Es sei somit höchste Zeit, „den Kapitalismus vor sich selbst zu retten“. Indem der „progressive Kapitalismus“ an seine Stelle trete, dessen Konturen Stiglitz schon in seinen Büchern über die „Schatten“ beziehungsweise „Chancen der Globalisierung“ (2002 und 2006) zeichnete. Dieses Konzept läuft auf einen Neokeynesianismus hinaus, mit staatlichen Markteingriffen und progressiver Besteuerung, der vor allem die globale Finanzwirtschaft neu am Gemeinwohl ausrichten soll. Aber selbst mit einer derart moderaten Rezeptur ist der 76jährige „Weltökonom“ Stiglitz, ein Kritiker, kein Gegner der Globalisierung, ein politisch resonanzloser Prediger in der Wüste. Kein Wunder, daß auch dieser Text im ohnmächtigen Appell „Zurück zur Moral“ ausklingt.