© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/19 / 22. November 2019

Immerhin ein Gesprächsangebot
Boris Palmer, der Rebell aus Tübingen, wirbt für grüne Politik ohne allzu ideologische Verblendungen
Matthias Matussek

Daß  der entspannte grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer von den Ideologen der eigenen Partei gehaßt wird, nimmt für ihn ein. Zunächst, denn selbstverständlich darf davon ausgegangen werden, daß Ideologen, grüne zumal, einen mächtigen Sprung in der Schüssel haben und diejenigen verachten, die ihn nicht haben. Oder zumindest in einem andern Verlauf.

Boris Palmer ist der Sohn des Obstbauern Palmer, der als Rebell vom Rems-tal schon zu meiner Stuttgarter Schulzeit anerkennende Anarchosympathien weckte, denn der Typ trat bei rund 200 Bürgermeisterwahlen an, verlor immer und ging neu an den Start. Und er hatte seinen Buben dabei, eben den Boris, der auf dieser Leidenstour, in der gewöhnlich alles, was der Papa macht, „peinlich“ ist, gestählt wurde.

Und nun ist er selber OB und, in Remstaler Familientradition, eigenwillig und zumindest für seine Partei bisweilen so „peinlich“, daß bereits ein Parteiausschlußverfahren ins Spiel gebracht wurde, weil er die Kühnheit hatte, eine blödsinnige politisch korrekte Image-Werbung der Deutschen Bundesbahn wegen ihrer Stereotypen-Dämlichkeit zu kritisieren. Die hatte nämlich, gähn, eine Türkischstämmige, einen Afrikaner und Nico Rosberg als repräsentatives Abbild unserer Gesellschaft gepostet, was Palmer in Erwartung des prompten Spießer-Shitstorms („rassistisch, menschenfeindlich, Parteiausschluß“) lustig abfällig kommentierte.

Darüber hinaus hatte er sich den Bestseller „Wir können nicht alle aufnehmen“ zuschulden kommen lassen, der der grünen Verblendung widersprach, die genau das behauptet.

Jetzt allerdings hat Boris Palmer, der Rebell, ein Buch vorgelegt, das ihn wieder anschlußfähig machen dürfte in grünen Kreisen, denn er berichtet von grüner Politik in der Praxis, denn nichts anderes ist Kommunalpolitik, das weiß ich von meinem Vater, der für die CDU in dem Rathaus in Stuttgart saß, das Boris Palmer vergeblich erobern wollte.

Boris Palmer hat Tübingen in einen grünen Traum verwandelt, wenn man den CO2-Ausstoß des Städtchens zur Richtschnur nimmt. Wikipedia faßt zusammen: „Die von ihm initiierte Klimaschutzkampagne ‘Tübingen macht blau’ ermöglichte eine Senkung des CO2-Ausstoßes um 32 Prozent pro Kopf ab 2007. Im selben Zeitraum gingen die CO2-Emissionen in Deutschland nur um acht Prozent zurück. Die Kampagne wurde unter anderem vom Bundesumweltministerium mit Preisen ausgezeichnet. 2014 wurde die Tübinger Klimaschutzinitiative mit dem European Energy Award in Silber ausgezeichnet.“

Also, liebe Grüne: Von Boris Palmer lernen heißt siegen lernen. Wie er das gemacht hat, beschreibt er in seinem neuen Buch „Erst die Fakten, dann die Moral“. Es klingt schon ausreichend Helmut-Schmidt-pragmatisch, da hätte der Verlag sich den Untertitel „Warum Politik mit der Wirklichkeit beginnen muß“ durchaus schenken können.

Keine Schönrednereien über die Flüchtlingskriminalität

Das Buch besichtigt Schlachtfelder der Kommunalpolitik, und auf keiner Seite läßt Palmer Zweifel aufkommen, daß er nach dem grünlinken Gebetbuch verfährt. Mietpteisbremse? Aber sicher! Tübingen weist Rekordmieten auf, gleichzeitig aber auch enorme Erfolge im Sozialen Wohnungsbau. Grundstückseigner werden unter Boris Palmer  zur Bebauunung gezwungen, statt daß sie ihre Brachen weitervererben, Bußgelder bis zu 50.000 Euro helfen ... Allerdings auch ein sehr höflicher Brief des OB, der seine Maßnahme erläutert.

Luftreinhaltung, der Klassiker: Hier wollte Palmer 30 Kilometer die Stunde Höchstgeschwindigkeit in der Altstadt, hat sich aber, (Busse, Rettungsfahrzeuge, Polizei) nach einer Umfrage auf 40 Stundenkilometer hochverhandeln lassen. Überhaupt: Er läßt gern die Bürger abstimmen, auch wenn er dabei Niederlagen riskiert wie bei der Abstimmung über den „Au-Brunnen“. 

In den tiefverankerten Dogmen der grünen Religion wird er allerdings zum Apologeten. Windkraft muß sein, auch wenn sie Milane zerheckselt, Landschaften verschandelt und ohne die Unterstützung konventioneller Kraftwerke kaum belastbare Energieversorgung garantiert. Dann jongliert er mit „ Netzen“  „Batterien“, „Staudämmen“ und „Methanproduktion“, als sei das alles nicht wolkige Zukunftsmusik, sondern bereits deutscher beziehungsweise Tübinger Alltag.

Erstaunlich klarsichtig schreibt er über die die Gefährdung der inneren Sicherheit durch eine grenzenlose Migration. Tatsächlich hatte Palmer schon zuvor vehement für die Verteidigung der Landesgrenzen plädiert. Auch die Schönrednereien der Flüchtlingskriminalität macht Palmer nicht mit. Er nennt die Fälle. Er nennt die Statistiken. Vor allem aber sieht er klarer als die Medien das oft verletzte elementare Fairneßgefühl der Menschen, die von Schutzsuchenden und denen, denen sie Hilfe leisteten, Dankbarkeit statt rohe Aggressivität erwarten.

Wortreich und geradezu religiös beseelt verteidigt Boris Palmer die Behauptung einer menschengemachten Erwärmung des Planeten – da ist er unerschütterlich grün. Doch in den zehn Thesen, die das Buch beschließen, warnt er seine Genossen eindringlich davor, mit übertriebener linker Identitätspolitik die Gesellschaft noch tiefer zu spalten  und dadurch eben nicht Fakten, sondern Moral in den Vordergrund zu schieben.

Ein Buch, das klingt wie ein vernünftiges Gesprächsangebot über Abgründe hinweg.

Boris Palmer: Erst die Fakten, dann die Moral. Warum Politik mit der Wirklichkeit beginnen muß. Siedler Verlag, München 2019, gebunden, 240 Seiten, 20 Euro