© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/19 / 22. November 2019

Antideutsche Welterklärungen
Der Journalist Mark Terkessidis und sein eindimensionales Bild der ewigen Schuld des alten, weißen Mannes in der Mitte Europas
Paul Leonhard

Schuld an allen Schlechtigkeiten sind die Bio-Deutschen. Trotzdem ist Rettung in Sicht, denn ihre Zahl sinkt. Das verdanke die Welt neben den von der Berliner Regierung in die Bundesrepubik gelenkten Migrationsströmen vor allem einer durchschlagenden Gesetzesänderung aus dem Jahr 2000. Damals wurde das Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht von 1913 für ungültig erklärt, was „für deutsche Verhältnisse durchaus einer postimperialen Revolution“ gleichkam, wie Mark Terkessidis in seinem Buch „Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute“ festhält. 

Seither werde Deutschsein nicht mehr ethnisch verstanden, und „es gibt deutsche Bürger nicht deutscher Herkunft – keineswegs als Ausnahme, sondern als Regel“, so der 1966 geborene Migrations- und Rassismusforscher. Im Einwanderungsland Deutschland sei ein neues, immer diverser werdendes Gemeinwesen entstanden, in dem unterschiedliche Erfahrungszusammenhänge, Referenzsysteme und Lebensweisen existierten und daher auch die Erinnerungskultur neu hinterfragt werden müsse. 

Privilegien der Biodeutschen müssen abgebaut werden

In seinem Buch, das Denkanstöße geben soll, beschreitet der Autor zwei Wege. Zum einen zeichnet er den Drang der Deutschen nach Übersee und in den europäischen Osten nach, beginnend mit den Kaufmannsfamilien der Fuggers und Welsers, die im 16. Jahrhundert an Eroberungszügen der Spanier teilnahmen. Bei dieser Gelegenheit bescheinigt Terkessidis, der ein erklärter Gegner des Berliner Humboldt-Forums ist, dem noch heute in Südamerika verehrten Gelehrten Alexander von Humboldt, daß dessen Einfluß auf die Naturwissenschaften „nicht der Rede wert“ und der Forscher überdies in die europäische Expansion und das rassistische Weltsystem verstrickt gewesen sei.

Gleichzeitig macht Terkessidis aber auf das Trauma aufmerksam, das die Deutschen im Dreißigjährigen Krieg erlitten, als auf ihrem Territorium alle gegen alle kämpften. Aus diesem begründe sich der Wunsch nach der Monopolisierung der Gewalt im starken Staat. Weitere geschichtliche Ereignisse, wie die Eroberung des deutschsprachigen Europas ab 1794 durch Frankreich, bei der sich die Deutschen selbst als Opfer des Imperialismus sahen, der im Namen der Zivilisation auftrat, oder die Besetzung des preußischen Rheinlands durch französische Truppen senegalischer Herkunft nach 1918 bei gleichzeitig nach Westen drängenden Polen, stärkten diesen Wunsch.

Interessanterweise sind die DDR-Bürger für Terkessidis lediglich Deutschstämmige und die Ereignisse 1990 keine Wiedervereinigung, sondern eine „neue Vereinigung“. Auch von einem Deutschland der Vielfalt möchte der Autor nicht sprechen, sondern erfindet stattdessen den Begriff der „Vielheit“. Terkessidis vertritt die Ansicht, daß es keine durch Einwanderung importierten Konflikte gebe, die nicht zunächst exportiert wurden. Als Beispiele nennt er die Bevorzugung der Tutsi-Bevölkerung im zu Deutsch-Ostafrika gehörenden Königreich Ruanda, was 1994 zu einem Völkermord an diesen führte, die Kaiser-Reisen 1898 in den Orient oder die Bemühungen um Mohammedaner als Verbündete im Ersten Weltkrieg, als in „Halbmondlager“ in Wünsdorf nicht nur die erste Moschee auf deutschem Boden errichtet, sondern auch Dschihadisten zum Kampf gegen die Entente ausgebildet wurden. Aber in derart historischen Details muß man sich aus Sicht des Autors gar nicht verlieren, will man rechtfertigen, daß Millionen Flüchtlinge nach Deutschland wollen: „Warum sollten die Menschen nicht zu uns fliehen, wo wir doch selbst gepredigt haben, wir seien die höchste Stufe der menschlichen Entwicklung?“

Erinnern bedeute nicht nur Gedenken, sondern auch Verantwortung dafür zu übernehmen, daß Privilegien abgebaut werden müßten, die noch immer diejenigen genießen, die in Deutschland als Personen deutscher Herkunft geboren wurden und noch dazu aus Familien mit akademischer Bildung stammen, mahnt Terkessidis und warnt, „people of color“ mit der Frage „Woher kommst du?“ zu behelligen, da das wie eine „ausgrenzende Identitätskontrolle wirkt“.

Mark Terkessidis: Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute. Hoffmann und Campe, Hamburg 2019, gebunden, 219 Seiten, 22 Euro