© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/19 / 29. November 2019

Zwei treibende Schollen
Liberal-Konservative müssen das Prinzip des Bürgers gegen Identitätspolitiker verteidigen
Alexander Wendt

Der Löwental-Preis trägt gewissermaßen als Unterzeile den Hinweis, daß er für liberal-konservative Publizistik verliehen wird. Seit einiger Zeit begegnen uns sehr viele Texte, die der Frage nachgehen: „Was ist konservativ“? Von der Paarung liberal-konservativ ist auch öfters die Rede; praktisch kommt sie in Deutschland schon deshalb selten vor, weil die Liberalität in Deutschland immer nur einen schmalen Platz behaupten konnte, egal in welcher Ausprägung. Denn ihr Konzept mutet dem Einzelnen, dem Bürger, erheblich mehr zu, als es andere Gesellschaftsentwürfe tun. Und keine Instanz mutet es einem Bürger zu, Bürger zu sein. Er muß es selbst tun. 

Löwenthal traf eine wichtige Entscheidung

Jemand, der liberal und konservativ sein möchte, steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden, allerdings besteht dieser Boden aus zwei treibenden Schollen, mit jedem Bein steht er auf je einer. Diese Lage fordert von dem, der so steht und treibt, ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit. Aber bevor ich darauf komme, warum ich mich in diese Lage gebracht habe und sie sogar für gut halte – für sonderlich komfortabel halte ich sie nicht – , will ich über Gerhard Löwenthal sprechen. 

Als er 2002 starb, schrieb der Spiegel in seinem Nachruf: „Kein anderer Nachkriegsjournalist spaltete das geteilte Land auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs so wie Löwenthal.“ 

Löwenthal – beziehungsweise das, was von ihm auch heute noch ausgeht – spaltet zumindest die Wikipedia-Einträge zu seiner Person, deren englischer sich deutlich von dem deutschen unterscheidet. Auf englisch heißt es: 

„Gerhard Löwenthal  was a prominent German journalist, human rights activist and author. He presented the ZDF-Magazin, a news magazine of ZDF which highlighted human rights abuses in communist-ruled Eastern Europe.“

In dem deutschen Ableger heißt es: „Gerhard Löwenthal  war ein deutscher Journalist. Von 1969 bis 1987 leitete und moderierte er das ZDF-Magazin.“ 

„Humans rights activist“ – diese Formulierung für jemand, der sich im politischen Spektrum rechts befand, kommt heute möglicherweise noch weniger Leuten über die Lippen als damals in den siebziger Jahren, also im kalten Krieg, der ja seit 1990 offiziell als beendet gilt. 

Gerhard Löwenthal traf gleich zum Anfang seiner Laufbahn als Publizist die wichtigste konservative Entscheidung seines Lebens, die später auch seiner Autobiographie den Titel gab: „Ich bin geblieben.“ Er blieb, was er sein wollte, ein deutscher Jude, ein Bürger in Deutschland, obwohl ihm andere genügend Gründe gegeben hatten, es nicht mehr sein zu wollen. Er blieb Bürger in Deutschland, und er wurde ein Journalist, der sich in seinen ersten Beiträgen für den RIAS schon in den späten Vierzigern gegen die Stalinisierung in Ostdeutschland wandte. Für beides entschied er sich, weil er es wollte, nicht, weil er es nach dem Willen einer äußeren Instanz gemußt hätte. 

Ich hatte am Anfang von zwei treibenden Schollen gesprochen, auf denen ein Liberalkonservativer sein Gleichgewicht auszutarieren hat. Um ihn herum treiben Schollen ganz anderer Größe, bei denen es sich um Bruchstücke älterer Formationen handelt. Die identitätspolitische Linke der Gegenwart hat mit der klassischen Linken kaum noch etwas gemein. 

Der Bürger ist der Selbsternannte schlechthin

Diese klassische Linke war durch viele Schwächen und eine spezifische Blindheit geprägt. Sie kannte praktisch keine Liberalität, sie überschätzte die Ökonomie als eigentliche Gesellschaftsgrundlage, Kultur samt Religion galt ihr nur als Überbau. Aber als Ziel galt ihr die Überwindung der Verhältnisse, die sie anklagte, und nicht in deren Bewirtschaftung. Sie versprach, Menschen aus den Fesseln ihres Standes zu lösen; ihre Hautfarbe, ihr Geschlecht oder die Tatsache, daß es sich um Europäer handelte, sollte in der neuen Gesellschaft  gerade keine entscheidende Rolle mehr spielen.

Gesellschaftsmitglied, das war der klassischen Linken Identität genug. Damit war sie dem bürgerlichen Begriff von Gesellschaft deutlich näher als die heute Identitätslinke, die sich mittlerweile sozial blind stellt, und dafür von nicht anderem mehr redet als Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, Religion, für die es PoC gibt, People of Color, old white men, postcolonial migrants und Träger vieler Geschlechts-

identitäten – nur eben keine Bürger. 

Eine Gesellschaft nach diesem Muster kristallisiert, um einmal Karl Marx zu bemühen, zu etwas Stehendem und Ständischem. 

Wer also das Prinzip des Bürgers und übrigens auch die relativ neuzeitliche Erfindung des Nationalstaates gegen die Identitätspolitiker verteidigt, der ist ein Liberaler. Denn individuelle Rechte finden entweder durch die Figur des Bürgers ihren Sinn, oder eben gar nicht. Und er ist Konservativer, denn er verteidigt etwas, das Gefahr läuft, in den westlichen Ländern fortgeschwemmt zu werden. 

In Deutschland ist oft von „selbsternannt“ die Rede, von selbsternannten Konservativen beispielsweise. Ich habe auch die Formulierung „selbsternannter Dissident“ gefunden, die vermutlich nur einem deutschen Qualitätsjournalisten unterlaufen kann. Der Bürger ist der Selbsternannte schlechthin. Er bekommt seinen Status nicht von einer Instanz verliehen. Er muß sein Bürgerrecht allerdings auch selbst beanspruchen und verteidigen, weil das niemand anderes für ihn erledigt. 

Ständegesellschaft droht statt Bürgergesellschaft

Vor kurzem sagte eine Vertreterin der Identitätslinken in Paris dem Philosophen Alain Finkielkraut:  „Ihre Welt geht unter. Sie können in Panik geraten, wie Sie wollen, es ist vorbei!“

Das führt zu einer Frage, der ich nicht ausweichen kann: Was ist, wenn die Figur des Bürgers tatsächlich historisch verkümmert? 

Wenn einer Mehrheit in dieser Gesellschaft das Prinzip des Bürgerrechts nicht mehr einleuchtet, und sie durch eine ständische Gesellschaft von Identitätskollektiven ersetzt wird? Gibt es eine Notwendigkeit dafür, daß eine Gesellschaft bürgerlich verfaßt ist? Nein, sie gibt es nicht. Die Gesellschaften des Westens waren ja auch nicht immer in ihrer Geschichte bürgerlich verfaßt, die Länder des Islam waren es bekanntlich nie. Gesellschaften können sich sehr schnell und unerwartet ändern. (Diese Erfahrung hatten übrigens auch die Großeltern Gerhard Löwenthals gemacht.) Was ist also deine Letztbegründung für deine Idee der Bürgergesellschaft? Warum bist du  überhaupt Bürger? Dafür gibt es keine bessere Begründung als: Weil ich es will. 

Tatsächlich, wenn es irgendwann nicht mehr genügend selbsternannte Verteidiger der bürgerlichen Gesellschaft geben sollte, dann wird sie verschwinden. 

Ich bin auf diese Weise liberal und konservativ, weil ich es so will, nicht, weil ich es sein muß. Solange ich die Möglichkeit dazu habe, werde ich anderen durch meine Texte Angebote machen. Ein Liberaler braucht keine Gefolgschaft. Aber er freut sich natürlich über Zustimmung.