© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/19 / 29. November 2019

Niedrige Löhne schaffen Fachkräftemangel
Arbeitsmarkt: Das unternehmerfinanzierte IW Köln fordert erneut verstärkte Zuwanderung aus dem Ausland
Fabian Schmidt-Ahmad

Markenartikel für die Hälfte, 20 Prozent auf das gesamte Sortiment – die Black-Friday-Woche und der Cyber-Monday dürften erneut die Kassen klingeln lassen. Die besten Angebote sind ruck, zuck weg. Warum? Weil der kurzfristig niedrige Preis die Nachfrage explodieren läßt. Das gilt auch für den Arbeitsmarkt: „In der Marktwirtschaft gibt es keinen Mangel an Arbeitskräften. Ist dieser zeitweise vorhanden, sind die Löhne zu niedrig“, erklärte der Linkspartei-Sympathie unverdächtige Hans-Werner Sinn im Focus. „Bei höheren Löhnen verzichten die Arbeitgeber entweder auf die Einstellung, oder es stellen sich mehr Leute zur Verfügung.“ Soweit die ökonomische Theorie.

Frauenanteil in den Mint-Fächern bei 33,4 Prozent

In der Praxis werden höhere Löhne durch die Klage vom Fachkräftemangel und deren „Billigimport“ hintertrieben. Munition dafür liefert der Herbstreport des arbeitgeberfinanzierten Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln: Das IW errechnete für den Oktober 263.000 Stellengesuche in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (Mint-Fächer), die nicht durch einheimische Fachkräfte gedeckt werden könnten. Insgesamt stünden 434.600 Angeboten nur 174.500 arbeitslos gemeldete Personen mit entsprechendem Berufswunsch gegenüber. 

Im Vergleich zu 2018 sei eine leichte Entspannung festzustellen. Damals wurden laut IW 337.900 Stellen nicht besetzt. Allerdings führen die Autoren diese Besserung im wesentlichen auf die schwächelnde Konjunktur zurück. Es bleibe bei einer Unterversorgung auf hohem Niveau. Noch 2014 zählte das IW mit 133.200 unbesetzten Stellen nur etwa halb soviel wie gegenwärtig. Besonders gefragt seien vor allem Informatiker. Hier blieben bei wachsender Nachfrage 52.100 Stellenangebote über.

Als Lösungsansatz empfehlen die IW-Ökonomen die Mint-Kompetenzen von Schülern zu verbessern, sie bei der Berufs- und Studienwahl zu stärken – doch mehr als 40 Prozent der deutschen Studenten halten eine Stelle im Öffentlichen Dienst für attraktiver, verriet 2018 eine Ernst & Young-Studie. Nach dem Motto: Wenn nicht Anwalt oder Arzt, dann mittelmäßig bezahlter Bürokrat – das ist besser, als als Autoingenieur mit 49 vom Arbeitgeber „freigesetzt“ zu werden und auf Hartz IV abzurutschen.

Auch die Potentiale von Frauen sollten besser genutzt werden. Doch der Frauenanteil bei den Studenten der Mint-Fächer liegt nur bei 33,4 Prozent, sagt das Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit der Fachhochschule Bielefeld. Bleibt also nur die Einwanderung, und darauf legt das IW großen Wert: „Eine Option ist die verstärkte Zuwanderung aus dem Ausland.“ Und die findet längst statt: die Zahl der in Deutschland beschäftigten Ausländer in akademischen Mint-Berufen habe „sich von 2012 bis 2019 mehr als verdoppelt – auf rund 140.000“.

Geradezu drohend klingt es in Richtung „Dunkeldeutschland“ (Joachim Gauck): „Gelingt es den östlichen Bundesländern nicht, zeitnah eine nachhaltige Willkommenskultur zu entwickeln und deutlich mehr ausländische Mint-Arbeitskräfte als bislang zu gewinnen, werden sich die demographischen Probleme im Mint-Bereich dort nicht bewältigen lassen – mit entsprechend gravierenden Folgen für die regionale Wirtschaft.“ Zudem „bilden sämtliche ostdeutsche Länder deutlich unterdurchschnittlich Informatiker aus“, mahnt das IW. Im Kontrast zum abgehängten Osten werden Einwanderungserfolge gelobt. Während seit 2012 die Zahl der deutschen Beschäftigten in Mint-Akademikerberufen gerade einmal um ein Viertel anstieg und in Mint-Facharbeiterberufen sogar stagnierte, verdoppelte sich im gleichen Zeitraum die Zahl der ausländischen Mint-Akademiker, während die der Mint-Facharbeiter immerhin noch um 62,2 Prozent stieg.

3.484 Euro für Einwanderer aus Nicht-EU-Staaten

Dabei lohnt ein Blick auf die absoluten Zahlen: So stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aus den sogenannten Flüchtlingsländern seit 2012 um 1.000 Prozent – aber ausgehend von einem geringen Niveau. Gegenwärtig sind knapp 30.000 Personen beschäftigt, die aus einem gängigen Asylbewerberland kommen. Nun erhofft sich die IW-Studie bis 2020 die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung von 400.000 Asylanten, von denen 13 Prozent in Mint-Berufen arbeiten sollen.

Überhaupt geht das IW von keineswegs verläßlichen Zahlen aus. Die simple Gegenrechnung von Stellenanzeigen und arbeitslos Gemeldeten funktioniert nicht so einfach. Eine Stellenausschreibung ist ein rechtlicher Vorgang, der gewisse Kriterien erfüllen muß, selbst wenn die vakante Stelle bereits jemandem zugesichert wurde. Umgekehrt gibt es keine Pflicht sich arbeitslos zu melden. Ein deutlicher Überhang von Stellengesuchen dürfte daher normal sein.

Auch ist die Aussage der unbesetzten Stellen unvollständig, wenn nicht hinzugefügt wird: „für dieses Gehalt“. Denn tatsächlich haben Arbeitnehmer mit der „Blauen Karte“ der EU längst die Möglichkeit, hochqualifizierte Ausländer aus allen Drittstaaten anzuwerben. Allerdings muß die Bezahlung so hoch sein, daß zwei Drittel (beziehungsweise 52 Prozent bei Mangelberufen) der Beitragsbemessungsgrenze in der Gesetzlichen Rentenversicherung erreicht wird, die derzeit bei 80.400 Euro im Jahr liegt.

Eine Fachkraft erhält also mindestens ein Jahresgehalt von 41.808 Euro (3.484 Euro Brutto monatlich). Das Durchschnittsgehalt für einen Ingenieur lag 2018 laut Stepstone-Gehaltsreport aber bei 66.958 Euro. Von 2012 bis 2019 stieg die Zahl der Mint-Akademiker mit einer Blauen Karte von 30.300 auf 72.300 Ausländer. „In Mint-Facharbeiterberufen ist hingegen ein anderes Bild zu beobachten. Hier gab es mit einer Zunahme in Höhe von 17,6 Prozent nur geringe Beschäftigungszuwächse von Personen aus Drittstaaten, aber eine starke Beschäftigungszunahme von Personen aus der EU“ – für letztere gibt es näm­lich keine Gehaltsuntergrenze.

Tatsächlich dürfte dafür dann wohl eine geringe Bereitschaft verantwortlich sein, einem Mint-Facharbeiter ein entsprechend hohes Gehalt zu zahlen, das ihm eine Blaue Karte ermöglicht hätte. Wenn das IW hier fordert, „bürokratische Hürden zu vermeiden und Prozesse zu beschleunigen“, heißt das entsprechend übersetzt nichts anderes, als die Löhne von Fachkräften aus Nicht-EU-Ländern – und damit auch der Einheimischen – zu drücken. Wo aber Löhne gedrückt werden können, wird der Mangel wohl nicht so groß sein.

„Mint-Herbstreport 2019“ des IW Köln:  www.iwkoeln.de/