© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/19 / 29. November 2019

Gott schuf das Meer, der Friese die Küste
Anhaltende Alarmmeldungen über dramatisch steigende Meeresspiegel schrecken die sturmfluterfahrenen Norddeutschen nicht
Christoph Keller

Passend zur kommenden Montag in Madrid beginnenden 25. Weltklimakonferenz (COP 25) veröffentlichte die US-Forschungsorganisation Climate Central in Princeton (New Jersey) erneut Dramatisches über den globalen Meeresanstieg: Aufgrund der seit Jahrzehnten verwendeten Satellitendaten sei die Küstenhöhe aller Kontinente um bis zu vier Meter überschätzt worden. Das habe ein Vergleich mit weitaus präziseren Lasermessungen jetzt ergeben.

Joachim Müller-Jung – Leiter des FAZ-Naturwissenschaftsressorts und mit kurzem Draht zum Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) versehen – hebt aus diesen Climate-Central- Nachmessungen zwei Schlußfolgerungen besonders stark hervor: Erstens seien mehr Küstenbewohner von periodischen Überschwemmungen bedroht als bisher berechnet. Nämlich bis 2050 gut 300 statt 150 Millionen, und bis 2100 sogar 630 Millionen Menschen – falls es nicht gelinge, wie in Paris 2015 (COP 21) vereinbart, die maximale Erwärmung der Erdatmosphäre auf zwei Grad Celsius zu deckeln. Zweitens erweitere sich mit der Verdopplung potentieller Opfer der Umfang „großskaliger Umsiedlungen aus ungeschützten Küstenregionen“. Zu solchen Binnenwanderungen werde im globalen Norden ab 2050 vor allem die US-Bevölkerung an der Ostküste gezwungen. Doch am meisten betroffen seien rund 250 Millionen Menschen in Indien, Bangladesch, Thailand, Vietnam, Indonesien und China. Wobei Müller-Jung mit Indien und China auch gleich zwei der, neben den USA, der EU und Rußland, größten CO2-Emittenten nennt, auf deren Konto zwölf der zwanzig Zentimeter gingen, um die der Meeresspiegel im globalen Mittel langfristig steigen solle.

Neues Küstenmodell warnt vor Hochwasserereignissen

Ein Prozeß, der, wie Müller-Jung kurios beiläufig unter Berufung auf PIK-Modellierungen referiert, offenbar durch keinen bundesdeutschen Weltrettungsaktionismus mehr zu beeinflussen ist. Denn selbst wenn es „die Welt irgendwann doch noch schafft, klimaneutral zu wirtschaften“, sähe sich die Menschheit im Jahre 2300 mit den „dramatischen Folgen“ eines zwanzig Zentimeter höheren Meeresspiegels konfrontiert.

Für die deutsche Nord- und Ostsee prognostiziert das neue US-Küstenmodell bis 2050 vermehrte Hochwasserereignisse, die 1,6 Millionen Menschen zwischen Dollart und Stettiner Bucht in Mitleidenschaft zögen. Zumindest in Ostfriesland schaut man indes mit sturmerprobter Gelassenheit auf dieses Szenario, wie die auf Küstenforschung spezialisierten Hamburger Geographen Beate Ratter und Jürgen Schaper berichten (Geographische Rundschau, 9/19). Die Region im Nordwesten Niedersachsens, am flachen Wattenmeer, in direkter Nähe zur Nordsee, liegt wie eine Badewanne zu großen Teilen unterhalb des Meeresspiegels, trotzt aber nach dem Motto „Gott schuf das Meer – der Friese die Küste“ seit Jahrhunderten hinter hohen Deichen Fluten und Sturmfluten.

Weil das Wasser bei Sturmflut von allen Seiten, von vorn vom Meer, von oben als Niederschlag, von unten über steigendes Grundwasser, kommt, stufen Ratter und Schaper die Region heute schon als „multiple Risikolandschaft“ ein. Für die größte vom Klimawandel ausgehende Gefahr halten sie jedoch primär nicht den Meeresspiegel der Nordsee, der seit 1840 um moderate 30 Zentimeter anstieg, sondern die bis 2100 im Extremfall um 24 Prozent zunehmenden Niederschlagsmengen.

Erst aus der Kombination von gehäuften höheren Sturmfluten und Stark­regenereignissen entstünden neue herausfordernde Schutzbedürfnisse. Auf die sich Wissenschaftler zusammen mit Politik und Verwaltung, Küsten- und Katastrophenschutz in der Region im Verbundprojekt „Extremeness“ vorbereiten, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wird. Hier konzipiert man realistische Deichbruchszenarien, diskutiert das Management anderer Extremsituationen, entwickelt neue Strategien und kalkuliert auch mit dem „außerhalb des Erfahrungsschatzes liegenden Undenkbaren“. Im Vertrauen darauf, daß auf den in der Vergangenheit vielfach bewährten Küstenschutz auch in Zeiten des Klimawandels Verlaß sei.

Wie tief dieses Vertrauen in der Bevölkerung verankert ist, ergab eine küstenweite Umfrage. Fast 60 Prozent der Befragten sind sich zwar des Risikos bewußt, daß ihre Lebenswelt über Nacht vom Meer zerstört werden könnte. Sie fühlen sich aber trotzdem so sicher, daß nur dreizehn Prozent von ihnen sich über Maßnahmen zur Verhinderung von Katastrophen informieren.

„Flooded Future: Global vulnerability to sea level rise worse than previously understood“: climatecentral.org/