© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/19 / 06. Dezember 2019

Erinnerungen aus dem Nichts
Krimi der Seele: Sibylle Lewitscharoff legt mit „Von oben“ einen großartigen Roman vor
Matthias Matussek

Wer oder was ist das, von dem Sibylle Lewitscha-roff in ihrem grandiosen neuen Roman „Von oben“ erzählt? Ein flatternder Bewußtseinsfetzen in der unendlichen Leere des Alls, ein Stückchen Menschenseele, noch halb lebenswarm vom Körper, dem sie entwichen ist, eine im Nichts sprudelnde Kaskade von Erinnerungen, eine immer wieder verdämmernde  Spottlust als Schleppe eines recht braven Lebens, das, so verraten die letzten Zeilen, durch einen Sprung von einem hochgeschossigen Balkonblumenkasten beendet wurde, ohne daß es sich dazu erklärt?

So nebenbei lassen sich Mosaiksteine zusammensetzen: Offenbar hat sich dieser Mann mit 63 entschlossen, auszusteigen oder Schluß zu machen, wobei ein Schluß, das endgültige Versinken im Schweigen, ja gerade nicht erreicht wurde, denn der körperlose Geist, der da über Berlin schwebt und zu den Stätten seines einstigen Alltagslebens hin- und hergeweht wird, ist zwar unhörbar für die Welt der Lebenden (die er doch so gerne erreichen würde, und sei es mit Schreien), aber der Kontakt ist ihm nicht vergönnt, schon gar nicht der visuelle: „Was gäbe ich darum, sichtbar zu sein, für einen Moment nur, danach mag mich der himmlische Kehrbesen wieder ins Nichts fegen.“

Wir lernen den untoten Erzähler kennen und tatsächlich mögen in seinen uneitlen und teilnehmenden Reflexionen. Er verlor seine Frau, die er liebte, an den Krebs, Marie hieß sie, er legte ihr ihre Lieblingsmütze in den Sarg, und Gerhard, sein Freund, sagte damals den klugen Satz, „wer in die letzte Leidenskurve einbiege, für den sei der Tod kein Gegner mehr“ – womit auch ein Beispiel für die hellwache musikalische Lakonik der Autorin zitiert wäre.

Er ist auf der Reise zu Gott oder zu wem auch immer, in welche Erlösung auch immer dieser Windhauch ihn treibt, denn wer ist dieser Gott schon – ist er vielleicht schon längst mit einem Paralleluniversum beschäftigt, ohne Zutaten wie Gottessohn oder Gottesmutter und mit fügsameren Geschöpfen? Über all diesen Spekulationen, die durchaus ins Kabbalistische wuchern, entgeht ihm die Gnadenlosigkeit des Berliner Großstadt-Alltags nicht, etwa der Selbstmord dieses Teenagermädchens, das über Kopfhörer noch den Song „Demon Days“ von Robert Forster hört: „In these demon days/ We’re pulling our pay/ The lights on the hill/ Are freezing us still (…)  But something’s not right/ something’s gone wrong“, bevor sie springt. Er möchte mit der Krähe, die den Schreckensort auf dem Pflaster inspiziert, fortfliegen, aber er schafft es nicht, fühlt sich wie „leergeblasen“: „Eine Macht, die nicht von mir ausgeht, läßt mich auf die Stelle starren, die sich vom Blut dunkel verfärbt hat. In ruhelosem Verharren erleiden meine Gedanken eine Niederlage nach der anderen, bis sie sich aufgezehrt haben.“ Das Kapitel, das so endet, ist mit „Beißwut“ überschrieben.

Das folgende heißt „Blütenjubel“ und sieht eine erregt telefonierende Frau im Mittelpunkt, die „Fick dich, fick dich, in den Hörer schreit, und für Momente könnte der Leser Zuschauer sein in einer der legendären Schaubühnen-Aufführungen eines Botho-Strauß-Stücks in den 1970ern mit Edith Clever oder Libgart Schwarz, was den untoten Erzähler zumindest humortechnisch wieder in ein faßbares und identifizierbares Milieu bringt.

Er ist der Geist über den Wassern und Spion in allerhöchsten Tabuzonen, etwa wenn er Angela Merkel im karierten Bademantel in ihrer Berliner Mietwohnung beobachtet, wie sie sich ein Dossier über Macron vornimmt, um sich auf ein Treffen mit ihm vorzubereiten. Er mag sie, mag, wie sie uneitel mit ihm gealtert ist all die Jahre, meditiert über die Schuld des Staates und der einzelnen vor Gott und spekuliert über die überraschende Großzügigkeit der Kanzlerin mit der Grenzöffnung – ist auch die eine Form der metaphysischen  Schuldtilgung gewesen?

Was den Erzähler – in den letzten Absätzen wird er Wilhelm Görtz genannt, wird von oben so genannt, ja, ein Finger spießt sich ihm entgegen – treibt in seinem Jenseitsmäandern, bleibt offen. Auch seine Erinnerung an eine direkte Gottesbegegnung bleibt folgenlos, weil er er das sehr Wichtige, das ihm der Allmächtige zudonnert, sofort wieder vergißt – wie tragischkomisch ist das nun wieder! Was diesen Görtz im Himmel über Berlin noch umtreibt, ist „das Unfertige“. Er ist in seinem „Wortbrei“ gefangen mit der vergeblichen Suche nach Sinn, auch wenn er von der Sinnsuche nicht lassen kann, wie er sich gesteht in einem Bekenntnis-Stakkato aus Halbsätzen, durchzogen von Sternensprache, einem Alphabet aus Sonnen und Halbmonden und Planeten … einen „Totengeher“ nennt er sich… mit leichtem Gepäck … der sich weigert … stumm im Gestöber zu verlöschen.

Sybille Lewitscharoff erinnert in ihrer ungemein virtuosen und mutigen Exploration der eschatologischen Grenzbezirke an die Meditationen, die Ernst Jünger in seinem in „Das abenteuerliche Herz“ enthaltenen Stück „An der Zollstation“ dem Schreiben über den Tod gewidmet hat: „Wie fern uns der Tod auch liege, so vermögen wir doch das Klima zu schmecken, das ihn umgibt.“

Und es ist dieses Klima, in dem sich der Erzähler aufhält, ein bisweilen stimulierendes, das durchaus auch zu Albernheiten einlädt, denn was ist komischer, als der Conditio humana in ihren Zappeleien zuzuschauen, etwa einer enorm exklusiven Sado-Maso-Inszenierung für Frauen, die schon alles haben. Oder was ist trauriger, als zu erleben, wie eine Bande von Halbstarken einen Jungen zu Tode tritt? Beobachtung von drüben, aus einem hilflosen Jenseits. Mit diesem Roman etabliert sich Lewitscharoff als große christliche Erzählerin, mit einer religiösen Wissensverve und fulminanter Galligkeit. 

Dieser Roman ist ein mal bohrender, mal absurder, mal alberner, mal ermattteter Krimi der Seele, der für Gläubige oder um ihren Glauben Kämpfende oder auch Nichtgläubige zu einem großen Kunstraum wird. Zu einem Lesegenuß.

Sibylle Lewitscharoff ist ein Meisterwerk gelungen.

Sibylle Lewitscharoff: Von oben. Roman. Suhrkamp, Berlin 2019, gebunden, 240 Seiten, 24 Euro