© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/19 / 06. Dezember 2019

Aus politischen Gründen angefeindet
Literaturnobelpreis: In der kommenden Woche nimmt Peter Handke die Auszeichnung entgegen
Thorsten Hinz

In den Reaktionen auf die Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke sind Abgründe sichtbar geworden. Am ehesten entschuldbar ist die Attacke, die der Schriftsteller Saša Stanišic bei der Überreichung des Deutschen Buchpreises gegen Handke vorbrachte: Er sei „erschüttert“ darüber, „daß so was prämiert wird“. Er hielt dem Nobelpreisträger vor, im jugoslawischen Bürgerkrieg begangene Verbrechen zu verharmlosen oder zu leugnen.

Die Heftigkeit der Anfeindung erklärt sich aus persönlicher oder familiärer Betroffenheit – Stanišic ist gebürtiger Bosnier, seine Familie floh während des jugoslawischen Bürgerkriegs nach Deutschland. Das Verfahren zur Generierung maximaler Aufmerksamkeit indes könnte er sich von Handke persönlich abgeschaut haben. 

Auf der legendären Tagung der „Gruppe 47“ in Princeton 1966 hatte der damals erst 24jährige Handke die versammelten Großschriftsteller und -kritiker mit der Feststellung konfrontiert, die deutsche Gegenwartsliteratur leide an „Beschreibungsimpotenz“. Die Sätze waren plakativ und banal, die Wortschöpfung „Beschreibungsimpotenz“ aber prägte sich ein. Handkes Pilzkopf-Beatles-Imitat-Frisur und die Nerdbrille ließen die Provokation zu einem Bild, zu einem popartigen Gesamtkunstwerk gerinnen. Handke wurde für die Medien zu einer populären Marke und konnte seinem Talent umgehend im Literaturbetrieb Geltung verschaffen.

Handke besuchte Miloševic im Gefängnis

Zumindest äußerlich glich Stanišics vorbereitete Wutrede auf der Frankfurter Buchmesse dem Auftritt Handkes vor 53 Jahren. Er spekulierte ebenfalls auf abgeleitete Publizität, indem er die Kompetenz und das Renommee anerkannter Institutionen und Personen in Frage stellte. Doch es gibt den entscheidenden Unterschied: Handke hatte gegen ein literarisches Establishment rebelliert, das sich als „Gruppe 47“ tatsächlich überlebt hatte. Stanišic zielte hingegen auf den eigenwilligen Solitär und Außenseiter des Literatur- und Medienbetriebs, zu dem der ältere Kollege längst geworden ist, und weiß sich mit der Mehrheitsmeinung darin einig. Außerdem hatte Handke – wie simpel auch immer – versucht, in ästhetischen Kategorien zu argumentieren. Die Attacke von Stanišic war ausschließlich eine politische. Sie richtete sich gegen eine vermeintlich falsche Gesinnung.

Damit war das allgemeine Reaktionsmuster vorgegeben. Es geht in der Diskussion um Handke so gut wie gar nicht mehr um Literatur, sondern ausschließlich um Politik. Konkret: um die Bewertung der Bürger- und Sezessionskriege im ehemaligen Jugoslawien nach 1990. In der internationalen Berichterstattung waren die Rollen seinerzeit klar in Gut und Böse unterteilt und die Serben zum alleinschuldigen Tätervolk ernannt worden. Über die ethnischen Gegebenheiten vor Ort und die historischen Hintergründe der Konflikte erfuhr das Publikum kaum etwas. In dieser einseitig aufgeheizten Atmosphäre publizierte Handke 1996 in der Süddeutschen Zeitung den Bericht „Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“. Er kritisierte, daß die westliche Presse „‘die Serben’ durch Reihe und Glied dick und fett als die Bösewichter (ausdruckten) und die ‘Moslems’ als die im großen und ganzen Guten“. Die FAZ nannte er das „zentrale europäische Serbenfreßblatt“ und verspottete den für Außenpolitik zuständigen Herausgeber Johann Georg Reißmüller als „Reißwolf & Geifermüller“. Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit.

„Die Wirklichkeit der Literatur hat mich aufmerksam und kritisch für die wirkliche Wirklichkeit gemacht“, schrieb Handke und versuchte, dem Zerrbild des fanatisierten Kriegerkollektivs „das Bild einer, im Vergleich zu der unsrigen, geschärften und fast schon kristallischen Alltagswirklichkeit“ entgegenzusetzen. Sie sei dadurch entstanden, daß „ein sich offensichtlich europaweit geächtet wissendes ganzes, großes Volk, welches das als unsinnig ungerecht erlebt und jetzt der Welt zeigen will, auch wenn diese so gar nichts davon wahrnehmen will, daß es, nicht nur auf den Straßen, sondern ebenso abseits, ziemlich anders ist“.

Solche Sätze sorgten in Deutschland auch deshalb für Irritationen, weil sie geschichtliche Assoziationen weckten, die an die eigene Situation im 20. Jahrhundert, den internationalen „Deutschenhaß“ (Max Scheler) erinnerten und die man lieber verdrängte. Handke, mütterlicherseits halb slowenischer Herkunft, hing zudem der Idee beziehungsweise Utopie eines multinationalen Jugoslawien an, das von der Entfremdung durch die westliche Warenwelt verschont geblieben war. Er besuchte den serbischen Ex-Präsidenten Slobodan Miloševic im Gefängnis des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag und hielt 2006 auf seiner Beerdigung eine kurze Ansprache. Im kürzlichen Interview mit der Zeit interpretierte er das als eine melancholische Reminiszenz: „Er hat bei einer der letzten Abstimmungen dafür votiert, Jugoslawien nicht aufzulösen. Sein Begräbnis war auch das Begräbnis von Jugoslawien.“ 

Dagegen besteht die veröffentlichte Öffentlichkeit auf der Alleinherrschaft der eigenen, der politischen Wahrheit. Sie hatte nichts Besseres zu tun, als den frischgebackenen Nobelpreisträger mit den Aussagen von Stanišic zu konfrontieren. Handke reagierte darauf äußerst gereizt: „Ich stehe vor meinem Gartentor, und von keinem Menschen, der zu mir kommt, höre ich, daß er sagt, daß er irgendwas von mir gelesen hat. Immer nur: Wie reagiert die Welt? Ich bin doch Schriftsteller. Ich komme von Tolstoj, von Homer, von Cervantes. Laßt mich in Frieden! Stellt mir nicht solche Fragen!“

Handkes Position erinnert an die des Sehers, der beansprucht, weiter und tiefer zu blicken als andere. Solche Metaphysik des „Priester-Schriftstellers“ (Karl Heinz Bohrer) schien sich spätestens mit dem Literaturstreit 1990/91 erledigt zu haben, doch vor dem Hintergrund einer vermeintlich aufgeklärten Gesellschaft, die in den Massenwahnsinn taumelt, erhält sie eine neue Plausibilität – und steigert um so mehr die Reizbarkeit der Meinungsführer.

Gerechtigkeit gilt natürlich auch für Journalisten. Sie tun nur, was sie gelernt haben und wozu sie von ihren Dienstherren ausgesandt werden. Die meisten kennen keinen Zwischenraum zwischen Literatur und Politik mehr. Für sie ist der sekundäre und parasitäre Diskurs, die Totalpolitisierung von Literatur, Kultur und Wissenschaft, deren Taxierung nach aktuellem Gebrauchswert das Normalste auf der Welt. Verschiedene Organisationen haben gefordert, Handke solle sich für seine Äußerungen zum Jugoslawien-Krieg entschuldigen. Andernfalls müsse das Vergabekomitee darauf bestehen, daß er auf den Preis verzichte. Es ist mit Störgeräuschen vor dem Stockholmer Konzerthaus zu rechnen, wenn Handke den Preis vom schwedischen König entgegennimmt.

Der Literaturpreis war nie gänzlich unpolitisch

Vollends abgründig sind die Versuche, Handke in seiner bürgerlichen Existenz zu treffen. Findige Schnüffler haben herausgefunden, daß der Schriftsteller 1999 einen jugoslawischen Paß erhalten hat. Handke betrachtete das nach seinem Bekunden als eine informelle, pragmatische Angelegenheit zwecks Senkung seiner Hotelkosten in Serbien. „Grundsätzlich müssen Österreicher, die sich in einem anderen Staat einbürgern lassen wollen, bei der Behörde um die Bewilligung nachsuchen, daß sie die österreichische Staatsangehörigkeit behalten dürfen.“ Das wird, weiß der Wiener Standard, nur in Ausnahmefällen genehmigt. Vorsorglich hat das liberale, um den Rechtsstaat besorgte Blatt eine Anfrage beim Kärntner Staatsbürgerschaftsreferat gestellt und die Antwort erhalten: „Handke hat diesen Antrag nie gestellt.“

Dasselbe Milieu, dem es in Staatsbürgerschaftsfragen gar nicht weltoffen, vielfältig und unbürokratisch genug zugehen kann, hat offenbar die schadenfrohe Erwartung gehegt, Handke könnte seine österreichische Staatsbürgerschaft verlieren und sogar staatenlos werden. Immerhin sind ihm zahlreiche Autoren, Lektoren, Journalisten und Literaturwissenschaftler mit einer Protesterklärung zu Seite gesprungen, in der es heißt: „Der Wille zur Illiberalität selbst bei sich für liberal haltenden Medien ist nur noch erschreckend.“

Natürlich werden literarische Texte niemals unter völliger Absehung von der Person des Autors rezipiert. Auch war der Literaturnobelpreis nie gänzlich unpolitisch. Die Auszeichnung des exilpolnischen Dichters Czeslaw Milosz ausgerechnet im Jahr 1980 ist im Kontext der Solidarnosc-Erhebung zu sehen. Der Marxist Bertolt Brecht war ein nicht weniger bedeutender Schriftsteller als der Katholik Heinrich Böll, aber im Kalten Krieg war es ein Ding der Unmöglichkeit, einem in Ost-Berlin wohnhaften Krypto-Kommunisten („Lob des Kommunismus“), der in Moskau den Stalinpreis entgegengenommen hatte, den Nobelpreis zu verleihen. Die Verleihung an den „guten Menschen aus Köln“ 1972 hingegen paßte in die Zeit der Ostverträge und der beginnenden Ost-West-Entspannung. Die Nichtauszeichnung des genialen Lyrikers und Faschismus-Propagandisten Ezra Pound wiederum war die stillschweigende Gegenleistung für seine Entlassung aus der Irrenanstalt, in die er nach dem Zweiten Weltkrieg gesteckt worden war (und die ihn vor noch Schlimmerem bewahrte). 

Innerer und äußerer Friede wäre schon mal gewonnen, wenn alle – Linke, Rechte, Liberale – den Unterschied zwischen literarischer Qualität und politische Gesinnung akzeptierten. Das Nobelkomitee hat sich mit der Auszeichnung Handkes ein Stück Freiheit von der Tagespolitik genommen.