© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/19 / 06. Dezember 2019

Meinungsfreiheit in Deutschland
In der Vorbehaltsdemokratie
Günter Scholdt

Demokratie in Gefahr“, stand kürzlich auf Seite eins einer ehemaligen Qualitätszeitung, die ich (vielleicht aus mir selbst verhohlenem Masochismus) immer noch lese. Nun weiß nicht nur die FAZ, wie lädiert unsere Demokratie ist, nur sehe ich meist andere Ursachen. Und wo sie Aufklärung verheißt, erwartete ich in der Regel eine weitere Indizierung vermeintlicher rechtsalternativer Politdämonen. Doch diesmal ging’s auch gegen die „Antifa“, jene (verschämt geförderte) Hilfstruppe unseres Herrschaftssystems, deren wohlkalkulierter Part darin besteht, durch brachiale Behinderung einer wirklichen Opposition Deutschland in eine linksgrüne Zuchtanstalt zu verwandeln.

Der Antifa warf Reinhard Müller am 26. Oktober 2019 vor, „selbstproklamierte Weltoffenheit“ mit „Hypermoral“ und „militanter Intoleranz gegenüber Andersdenkenden“ zu paaren: „Ein ‘Antifaschismus’, der gewählte Politiker demokratischer Parteien am Reden hindert oder ordentliche Professoren in ihren Vorlesungen bedroht, sollte das ‘Anti’ streichen. ‘Nazis raus’-Rufe müßten ihnen selbst entgegenschallen. Denn hier geht es um das Verhindern von Meinungsäußerungen, um das Ersticken jedweder Diskussion schon im Keim – und das durch Zwang und Gewalt.“

Oha, denke ich, darf man neuerdings Skandale wieder „Skandale“ nennen, ohne gleich „Nazi“ zu sein. Aber gemach! Ganz so schnell, wenn überhaupt, müssen wir nicht umlernen und unsere politmediale Klasse für liberaler halten, als sie ist. Auch nicht, wenn gleichzeitig Frank-Walter Steinmeier in staatsväterlicher Pose „aggressive Gesprächsverhinderung“ und „Einschüchterung“ verurteilt und weiter tönt: „Andere zum Schweigen bringen zu wollen, nur weil sie das eigene Weltbild irritieren, ist nicht akzeptabel.“ Politischer Streit im Respekt für den anderen sei schließlich das „Herzstück der Demokratie“.

Wer möchte ihm widersprechen oder Bundesbildungsministerin Anja Karliczek, wenn sie mahnt, der Politdiskurs dürfe „nicht so eingeengt werden“, daß man einen „Teil der Gesellschaft“ (sprich: Wählerstimmen) verliert? Es gehe nicht, daß sich aktivistische Studentengruppen „als Meinungszensoren aufspielen“. Das berühre den „Kern von Wissenschaft und Lehre“, und Universitäten hätten „die Ausübung dieser Freiheiten“ zu gewährleisten.

Wie wahr und wie selbstverständlich! Doch wie glaubwürdig sind solche Bekundungen angesichts einer verbreiteten Mentalität von Universitätsspitzen, die (von Hamburg und Bremen bis Frankfurt, Halle oder Konstanz) Drangsalierte meist im Regen stehen lassen und in Berlin der „Antifa“ sogar Räume für Straßenkampfschulungen genehmigten? Bevor wir von solchen Schaufensterreden also gleich die Renaissance von Zivilität erwarten oder eine Morgenröte für Meinungsäußerungsfreiheit heraufdämmern sehen, gilt es, Einschränkungen vorzunehmen, die durchaus desillusionieren.

1. An wen eigentlich richten sich solche Appelle? An die gehätschelten linksextremistischen Chaoten, die man jahrzehntelang gewähren ließ, als wären Straße und Alma mater ihre politischen Gutshöfe? An Rektoren, die fast nie, wie geboten, von ihren disziplinarischen Mitteln Gebrauch machen? An eine informationsmäßig entmündigte Öffentlichkeit oder den weithin gleichgeschalteten Rundfunk, der seit Ewigkeiten die ideellen Voraussetzungen dafür schafft, daß die Hemmschwelle der Tugendterroristen immer tiefer sinkt? Denn wenn im journalistischen Daueralarm der politische Gegner zum Leibhaftigen denaturierte, handeln die Störer ja subjektiv richtig. Mit Teufeln diskutiert man nicht.

Die eigentliche Crux besteht doch darin, daß die politisch Verantwortlichen von solcher Ausgrenzung ihrer parlamentarischen Konkurrenz massiv profitieren. Aber selbst wenn das nicht ihr Hauptmotiv wäre und sie die Gefahr bisher nur unterschätzt hätten, wäre das weniger schlimm? Dann hätten wir es mit maulwurfshaft Blinden zu tun, vergleichbar jenen Innenpolitikern, die angeblich jetzt erst entdecken, daß es eine beängstigende Clankriminalität gibt. Schließlich ist die humanitaristisch bemäntelte Gewalt an Hochschulen (und nicht nur dort) hierzulande längst die Norm. Und daß eine linksextremistische Clique schon seit gefühlten Ewigkeiten bestimmt, wer reden darf und wer nicht, kann nur denen entgangen sein, die systematisch beide Augen schließen.

Im Mainstream plädiert niemand für ein Diskussionsklima, das die wirkliche Bevölkerungsstimmung umfassend repräsentiert. Wenn momentan Gewaltzensur Thema wurde, zielt dies bestenfalls auf ein eng umzirkeltes Terrain „legitimer“ Ansichten.

2. Wessen Freiheit gilt denn die neuerdings proklamierte Sorge? Natürlich plädiert im Mainstream niemand für ein Diskussionsklima, das die wirkliche Bevölkerungsstimmung umfassend repräsentiert. Wenn momentan – vermutlich nur kurzfristig – (akademische) Gewaltzensur Thema wird, zielt dies bestenfalls auf ein eng umzirkeltes Terrain „legitimer“ Ansichten. Mißbilligt werden unbotmäßige Exzesse der sonst systemzahmen „antifaschistischen“ Kampfhunde. Kampagnen sollten ausschließlich böse Populisten vom öffentlichen Forum fernhalten, aber keineswegs Etablierte treffen wie Ex-Innenminister de Maizière (CDU), Christian Lindner (FDP) oder Wirtschaftsprofessor Lucke, wo der doch inzwischen wieder zu Kreuze kroch und frühere Parteigenossen anbräunte. So stellen sich unsere ideologischen Dominatoren die gewünschte robuste „Demokratieerziehung“ nämlich nicht vor.

3. Wie glaubwürdig sind die jüngsten Advokaten verlorener Freiheit? Im Himmel, wissen Bibelkundige, sei mehr Freude über einen reumütigen Sünder als über neunundneunzig Gerechte. Gilt das in politicis auch für alle, die momentan Freiheitsdefizite registrieren? Einige der Intelligenteren unter ihnen dürften spätestens seit der Allensbach-Umfrage und deftigen Wahlschlappen langsam ein Gespür dafür entwickeln, wie verbreitet das Unbehagen am öffentlichen Maulkorb ist, so daß sich einige Lippenbekenntnisse dagegen empfehlen.

Ein Herr Lindner etwa, Chef einer in Sachen „Freiheit“ substanzlos gewordenen Partei, deren Mitglieder mehrheitlich kaum noch ahnen, welche Verpflichtung ihr Name beinhaltet. Er, dessen Ausgrenzungspolemik gegenüber einer wirklichen Alternative nie verstummte, geriert sich aktuell als beklagenswertes Opfer von Intoleranz. Man könnte weinen vor Rührung.

Auch Steinmeiers jüngstes Bekenntnis zum respektvollen Streit als „Herzstück der Demokratie“ erweicht nahezu Steine, besonders da er in der Woche zuvor seinen gebührenden Teil zur (Wahlkampf-)Instrumentalisierung der Halle-Morde beitrug, indem er überall im alternativen Milieu geistige Brandstifter ausmachte: „All diese Taten waren aus Worten erwachsen – aus kruden Manifesten, aus einschlägigen Internet-Foren, aus verrohter Sprache, aus schrittweisen Grenzverschiebungen, auch aus Beschwichtigungen und Relativierungen, aus stillen oder expliziten Sympathiebekundungen all derer, die zwar selbst nicht zur Waffe greifen, die aber das Wort als Waffe nutzen.“

Mahnungen wie die Steinmeiers, Gaucks e tutti quanti wirken als höchstoffizielle Beschwichtigungen, die den Ernst der Lage bemänteln. Sie stützen die Illusionen eines wirklichen Meinungspluralismus, der nur ausnahmsweise

bedroht wäre.

Wie richtig sind solche Sätze, wenn sie nur gegen tatsächliche beziehungsweise vorsätzliche Kriminalität gesprochen wären! Dabei weiß jeder Aufgeweckte, wie kleinste semantische Verschiebungen legitime Kritik zu verfassungs- oder strafrechtlichen Anstiftungsdelikten oder Kollektivtäterschaft aufblähen und medial Dressierten beim denunziatorischen Begriffspaar „Haß und Hetze“ sofort der gewünschte politische Gegner AfD einfällt.

Oder blicken wir auf Joachim Gauck, vor Amtsantritt authentisch und partiell nonkonformistisch, um sich anschließend um so stärker zu verbiegen. Der präsidiale Sprachschöpfer von „Dunkel-“ und „Helldeutschen“ entdeckt als Pensionär plötzlich Binsenweisheiten wie: „Toleranz darf nicht nur jenen gelten, die wir mögen“ oder: „Wir dürfen nicht alle als Faschisten brandmarken, wenn sie rechts von uns stehen.“

Aber nicht einmal das erweist sich als unparteiliche Rückkehr zur politischen Rationalität. Vielmehr zielt sein Toleranzplädoyer „in alle Richtungen“ letztlich darauf, Thüringens Linke als politische Kraft der „Mitte“ aufzuwerten, während er im gleichen Atemzug kraft höherer Einsicht die AfD für „überflüssig“ erklärt.

Solche Art konzedierter Liberalität ist so tückisch wie die gängigen abstrakten Freiheitsbekenntnisse von Medien oder „Kulturschaffenden“. Mir graust vor Pseudohelden der Komik-Branche wie Dieter Nuhr oder Hape Kerkeling, die mal wohldosiert ein Pointchen gegen Feinstaub, Greta oder Feminismuswahn riskieren, um sich dann wieder durch Spott über die „Nazitrottel“ der AfD abzusichern. Desgleichen vor dem Pharisäer-Slang, mit dem zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse der Vorsitzende des Börsenvereins die „Freiheit des Wortes“ als unverhandelbare „Grundlage unserer Demokratie“ preist, während man gleichzeitig einen polizeigeschützten Cordon sanitaire um eine „Schmuddelecke“ für nötig hält, weil ganze vier von rund 7.500 Ausstellern einmal nicht im Mainstream baden.

Und nur ein Feigenblatt ist es, wenn die Zeit eine Meckerrubrik „Streiten“ einrichtet, während man sonst fast alles, was „Rechte“ äußern, für unsagbar, extremistisch oder gar geistige Anstiftung zum Mord erklärt. Hier tarnen sich Böcke als Gärtner, und ihre liberale Geste erinnert an Wohltätigkeitsspenden der Mafia oder an infektiöse Heiler.

4. Helfen solche Toleranzappelle aus dem Mainstream dennoch? Auch sie belegen einen Riß in der liberalen Fassade dieser Zensoren-Republik. Aber solches punktuelle Eingeständnis suggeriert zugleich eine grundsätzliche Absicht, dagegen einzuschreiten. Das trügt, besonders in einem Moment, wo ein weiteres Stück Repression staatlich implementiert wird: ein beim Verfassungsschutz angesiedeltes (auch noch anonym zu nutzendes) Verpetz-Telefon „RechtsEX“, von dem Michael Paulwitz erhellend schrieb, sein Name erinnere an Unkrautvernichtungsmittel (JF 46/19). Welche Denunziationsorgien in unserem so untertänigen Volk damit ausgelöst werden, läßt sich unschwer vorstellen, zumal Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang verkündete, „eine klare Unterscheidbarkeit zwischen einer extremistischen Rechten und dem konservativen Lager“ sei „nicht mehr vorhanden“.

In solchem Kontext wirken Mahnungen wie die Steinmeiers, Gaucks e tutti quanti als höchstoffizielle Beschwichtigungen, die den Ernst der Lage bemänteln. Sie stützen die Illusionen eines wirklichen Meinungspluralismus, der nur ausnahmsweise bedroht wäre. Wo man jedoch nicht endlich und vorbehaltlos einen Dialog mit der politischen Alternative zur schlichten Selbstverständlichkeit erklärt, möge man uns mit Freiheitsbeschwörungen verschonen. Dann besteht wenigstens keine Gefahr, daß jemand unsere (von Grundmißtrauen gegen ihr Staatsvolk geprägte) Vorbehaltsdemokratie mit einer wirklichen verwechselt. Nur Freiheits-Placebos helfen niemandem. Denn der Patient Deutschland ist tatsächlich erkrankt, aber nicht an dem, was durch Scheindemokraten heilbar wäre.






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Historiker und Germanist und war Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsaß. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Grundgesetz und Verfassungswirklichkeit („Es ist ein Skandal“, JF 28/19).

Foto: Im Kampf gegen unliebsame Meinungen scheint jedes Mittel recht:Wolkige Mahnworte zur Toleranz, die die Wirklichkeit im Lande nur kaschieren.