© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/19 / 13. Dezember 2019

„Was kommt, ist bittere Armut für viele“
Die Anzeichen mehrten sich, die Zeit laufe, der große Finanz- und Wirtschaftskrach stehe uns bevor, ist sich Markus Krall sicher. Damit sorgt der Ökonom in der Fachwelt für Aufsehen
Moritz Schwarz

Herr Dr. Krall, ist der Finanzkollaps noch abzuwenden?

Markus Krall: Das glaube ich nicht. Erstens, weil die Politik sich weigert, zu sehen, daß er bevorsteht. Zweitens, weil es dafür höchstwahrscheinlich zu spät ist.

Warum?

Krall: Hätte die Politik rechtzeitig etwas gegen die sich entwickelnden ökonomischen Ungleichgewichte unternommen, wäre das möglich gewesen. Inzwischen aber sind diese wohl zu groß. 

Was sind das für Ungleichgewichte?

Krall: Dank Herrn Draghi, beziehungsweise der EZB, befinden wir uns seit Jahren im Drogenrausch des Nullzinses.

Moment! Sie meinen Katerstimmung: Denn der Nullzins zerstört Ersparnisse und Renten und läßt die Mieten explodieren. 

Krall: Das auch, doch spielt das für unser Thema keine große Rolle – im Gegensatz zu dem Effekt, daß der Nullzinsrausch alle ökonomischen Sinne benebelt. Er läßt alles schön rosa erscheinen, schließlich haben wir Wachstum und die geringste Arbeitslosigkeit seit 1990.

Alles Indikatoren für eine stabile Ökonomie! 

Krall: Eigentlich ja, weil etwa die Arbeitslosigkeit in einer funktionierenden Wirtschaft steigt, wenn sich Strukturen ändern (veraltete Prozesse oder Branchen sterben) und sich neu anpassen (neue Prozesse oder Branchen entstehen). Und nach so einer Umstrukturierung sinkt sie dann wieder. Jedoch ist unsere geringe Arbeitslosigkeit nicht Ausdruck eines solch erfolgreichen Strukturwandels – sondern, im Gegenteil, seiner Verhinderung. Denn Marktwirtschaft unterliegt eigentlich einem steten Prozeß kreativer Zerstörung, wie der Nationalökonom Joseph Schumpeter es nannte, aus dem immer wieder Neues, Zukunftsfähiges entsteht. In der EU aber halten wir viel zu viele unproduktive Unternehmen künstlich am Leben. Derzeit vor allem da sie keinen marktgerechten Zins zahlen: Dank Nullzins kommen sie kostenlos an Kapital, um ihre Verluste auszugleichen. Bei marktgerechtem Zins wäre das nicht möglich, sie müßten umstrukturieren oder dichtmachen. 

Könnte die EZB den Zins nicht nach und nach, also ganz behutsam, wieder erhöhen? 

Krall: Das meinte ich, als ich anfangs sagte: „Hätte die Politik rechtzeitig etwas unternommen.“ Ich habe eben das damals schon gegenüber der Politik gefordert. Inzwischen aber fehlt dafür die Zeit und den Banken die Finanzkraft.

Wenn tatsächlich der Nullzins schuld an allem ist, verdanken wir dann einen eventuell kommenden Kollaps dem Euro beziehungsweise der Euro-„Rettung“, die ja der Zweck des Nullzinses ist?

Krall: Ja, und zudem trägt der Euro dadurch dazu bei, daß seine Mitglieder nicht mehr wie früher ihre Währung abwerten können – was das Anwachsen der Ungleichgewichte ebenfalls anheizt.  

Sie haben den Begriff „Zombieunternehmen“ eingeführt. Was genau ist das?

Krall: Der Nullzins wirkt wie eine Subvention. So sammeln sich immer mehr Firmen, die ökonomisch schon tot, aber doch noch aktiv sind, eben wie Zombies.   

Klingt zwar schlecht, erklärt aber noch nicht, warum es zum Kollaps kommen soll?

Krall: Weil die Zombifizierung nicht ewig weitergehen kann und die Banken das gleiche Problem haben. Ihr Geschäftsmodell, die Zinsmarge, ist außer Kraft, und so geht auch ihnen das Geld aus. Die Erträge fallen schneller als die Kosten gesenkt werden können, das führt zu Verlusten. Und dieser Moment kommt nach meiner Schätzung im dritten oder vierten Quartal 2020. 

Warum ausgerechnet dann? 

Krall: Das ergibt sich aus der simplen Fortschreibung des bereits beobachtbaren Erodierens der Erträge. 

Eine Vorhersage auf ein Vierteljahr genau – kann das seriös sein? 

Krall: Ich garantiere das ja nicht, ich schätze das so gut ich das mit den verfügbaren Daten kann.  Da gibt es immer auch eine Unschärfe von mehreren Quartalen und auch die Möglichkeit, dass die Krise an einer ihrer Abzweigungen einen anderen, unvorhersehbaren Verlauf nimmt. Und natürlich könnte eine rasche Rezession die Sache beschleunigen. Ebenso wie die Banken sie mit Bilanztricks und Kniffen noch verzögern können. Aber daß diese Ungleichgewichte sich bald entladen werden halte ich für abgemacht. Daher bleibe ich dabei, am wahrscheinlichsten ist der Ausbruch der Krise Ende kommenden Jahres.  

Experten sagen, niemand könne voraussehen, wann es zum Kollaps kommt. 

Krall: Im Sinne von „Wissen“ stimmt das. Aber ich sehe das als wahrscheinlich an. Warten wir eben ab und unterziehen meine Prognose so dem Praxistest! 

Es geht ja nicht um das Quartal, sondern darum, ob an Ihrer Voraussage – Ihre Analyse ist unbestritten – überhaupt etwas dran ist. Schließlich hat es in den letzten Jahren etliche „Crash-Propheten“ gegeben. Eingetreten ist er bis jetzt aber nicht.

Krall: Ja, doch was für eine Rolle spielt das? Ändert das etwas an den Ungleichgewichten? Die übrigens nicht aus dem Nichts gewachsen, sondern zum Teil aus der Zeit vor dem Crash 2008 stammen, nach dem sie nämlich nie behoben worden sind – und auf deren weiterem Anwachsen meine Vorhersage beruht.

Unterschätzen Sie nicht völlig die Mittel, die zur Verfügung stehen, sollten sich die Regierungen zusammentun? Der Kollaps kommt nicht – weil die EZB ihn durch Gelddrucken unterdrücken wird! 

Krall: Genau das werden sie tun! Doch ist das der Weg in die massive Inflation. Sie werden nicht so viel drucken können, wie Sie brauchen werden – ohne den Euro durch Hyperinflation zu zerstören.

Sie sagen, inzwischen sei es zu spät, die Krise zu verhindern. Aber die Banken, die in Ihrem Szenario der erste Dominostein sind, könnten doch gerettet werden. 

Krall: Stimmt, doch auch dann wird mit ihrer Finanzierung von Zombieunternehmen Schluß sein. Dieses tote Gewebe des europäischen Wirtschaftskreislaufs muß abgebaut werden. Und sein Anteil daran beträgt inzwischen etwa 15 Prozent. Das bedeutet jede Menge Zusammenbrüche und Arbeitslosigkeit.       

Wer sind diese Zombieunternehmen?

Krall: Die finden sie in allen Branchen. Und bevor Sie fragen: Auch in Deutschland beträgt der Anteil etwa 15 Prozent.

Wenn der Kollaps tatsächlich bevorstünde, müßte dann nicht die seit 2008 verschärfte Bankenaufsicht längst Alarm schlagen?  

Krall: Ja – wenn es ihr Interesse wäre, uns zu warnen. Leider ist das Gegenteil der Fall. Vor allem will sie eines: Daß wir uns bloß nicht sorgen! Weshalb sie – zusammen mit den Banken und deren Hang zur „Bilanzkreativität“ und der Politik – alles tun wird, nur nicht das, was Sie in Ihrer Frage blauäugig annehmen. 

Aber warum nicht?

Krall: Weil in dieser angespannten Situation jedes Mißtrauen Gift ist und den Crash sofort auslösen könnte. 

Nach Ihrer Logik kommt der Crash also aus Angst davor, daß der Crash kommt? 

Krall: Das ist wie Mikado: Bloß nicht bewegen! Aus Angst, es knallt. Die Krise ist die Folge schwindenden Vertrauens. 

Wie läuft die Krise nach Ihrer Ansicht ab?

Krall: In zwei Phasen, deren erste ich ja schon geschildert habe. Wenn also in etwa einem Jahr zahlreiche Banken rote Zahlen schreiben werden – weil ihre Kosten ihre Erträge übersteigen, da es wegen des Nullzinses keine Spar- und Transformationsmargen mehr gibt und auch die Kreditmargen weggeschmolzen sind – bleibt ihnen nur, die Kosten zu senken. Das aber können die Banken nicht. Im Gegenteil, wegen der verstärkten Regulierung und der verschärften Auflagen, denen sie inzwischen entsprechen müssen, werden ihre Kosten sogar weiter steigen. Letzte Möglichkeit: sie reduzieren ihr Eigenkapital, um daraus ihre Verluste zu decken. Doch sinkt dieses, sinkt auch ihre Fähigkeit, Risiken zu tragen, sprich Kredite zu vergeben. Schlimm, wenn Sie einen Kredit brauchen. Ganz schlimm, wenn Sie schon einen haben und diesen verlängern müssen – die Bank dazu aber nicht mehr in der Lage ist. Folge: Schnell werden etliche Kreditnehmer, sprich Unternehmen, pleite gehen. Das mögen in der ersten Welle vielleicht nur ein halbes oder auch nur ein viertel Prozent sein. Aber da diese Pleitiers ihre Kredite nicht mehr bedienen können, bedeutet das erneute Verluste für die Banken – die wiederum mit der Reduzierung des Eigenkapitals und damit ihrer Kreditfähigkeit reagieren. Was, Sie ahnen es, zu neuerlichen Pleiten unter den Unternehmen führt. Die wiederum dann ihre Kredite nicht bezahlen können ... und so weiter und so fort. So löst eine Welle die nächste aus.

Und die Abwärtsspirale endet erst, wenn alle Zombiefirmen pleite sind?

Krall: Genau. Nur ist die Krise dann leider noch nicht vorbei. Denn deren Kreditsumme wird die Summe des Eigenkapitals aller Banken übersteigen – was bedeutet, daß nun auch diese pleite sind. Womit wir endgültig im Ernstfall wären. Weil nämlich wichtige, als „systemrelevant“ betrachtete Banken von den Staaten, natürlich mit Steuergeld, gerettet werden. Doch während die Staatsausgaben so steigen, sinken die Steuereinnahmen, wegen der vielen kollabierenden Unternehmen. Zudem steigen die Sozialausgaben durch viele neue Arbeitslose. So geraten die Euro-Staaten in eine immer prekärere Lage – das Vertrauen der Finanzmärkte in sie sinkt. Die Euro-Staaten wissen sich schließlich nicht anders zu helfen, als die EZB Geld drucken zu lassen. Wodurch auf die bisherige Krisenphase der Deflation, also der Geldverknappung, eine Geldschwemme und eine Inflation folgt – und damit eine Entwertung aller Geldvermögen wie Ersparnisse, Rente, inklusive Betriebs- oder Riesterrente, Lebensversicherung etc. Und das wiederum – endlich kommen wir zum Ende – wird zu einer Währungsreform führen. 

Einem „Renteneuro“ analog zur Rentenmark, wie nach der Inflation von 1923?

Krall: Ganz sicher nicht – der Euro wird tot sein. Und auch an einen Nord- und Süd-Euro glaube ich nicht, eher kommen wieder nationale Währungen.

Der Euro ist ein politisches Projekt, ihn aufzugeben, diese Blöße werden sich die Politiker nicht geben! Wahrscheinlicher wäre doch wohl eine Art „germanischer“ Euro, zusammen mit Holland, Luxemburg, Österreich, vielleicht Schweden? 

Krall: Ich glaube, man wird von Währungsverbünden erst mal die Nase voll haben. Zumindest für ein, zwei Generationen – bevor vielleicht wieder ein ähnlicher politischer Wahnsinn beginnt.

Währungsreform klingt in deutschen Ohren nach Aufschwung und neuem Wohlstand.

Krall: Nach vielleicht drei bis fünf Jahren könnte es wieder aufwärts gehen. Aber daß auch wieder ein Wirtschaftswunder kommt, ist nicht sicher. Vor allem aber wird alles, was die Leute ein Leben lang gespart haben, verloren sein. Und wer keinen Neuanfang schafft, bleibt in bitterer Armut. Garantiert etwa die vielen Alten, die Berufsunfähigen und alle, die zu alt sind, eine neue Rente anzusparen – denn die alte ist ja weg. Ganz abgesehen davon, daß alle die Jahre bis zum Neuanfang erst mal überstehen müssen. Und nochmal: Während und nach der Krise wird der Sozialstaat nicht so „spendabel“ sein wie heute! Und das wäre noch das „Happy End“. Das böse Ende kommt, wenn die Deutschen wegen des Crashs sozialistischen Rattenfängern auf den Leim gehen, die sagen werden, schuld an allem sei der Kapitalismus, der versagt habe. Dann wird es statt Rückkehr zur Marktwirtschaft zum Verharren in der Krise und zur Abwanderung der Leistungsträger kommen.  

Allerdings sind Sie Sprecher der Degussa Goldhandel. Ist es da nicht in Ihrem Interesse, vor einem Kollaps zu warnen? Schließlich gilt Gold als sichere Krisenwährung.

Krall: Ich warne seit fünf Jahren – CEO der Degussa bin ich seit zehn Wochen. Und ich warne nicht, weil ich CEO eines Goldhandelsunternehmens bin, sondern ich bin CEO eines Goldunternehmens, weil ich darin eine gute Sache sehe, um sich vor dem Crash zu schützen. Apropos, sicher fragen Sie mich jetzt, wie ich mich denn vorbereiten und mein Vermögen schützen kann? Ich rate zu einem defensiven Portfolio von kurzlaufenden staatlichen Fremdwährungsanleihen aus den USA, Kanada, Großbritannien, Australien etc. – angereichert um zehn bis zwanzig Prozent des liquiden Vermögens in Gold. Wer es genauer wissen möchte, den verweise ich auf mein Buch „Wenn schwarze Schwäne Junge kriegen“ sowie auf die geschätzten Autorenkollegen Max Otte und Daniel Stelter.                    

Sollte die Krise nicht eintreten wie von Ihnen vorausgesagt, was dann?

Krall: Dann lag ich eben falsch und freue mich – was ich aber nicht glaube. Nochmal, meine Vorhersage beansprucht nicht, zwingend zuzutreffen. Sie beansprucht lediglich – oder immerhin –, wahrscheinlich zu sein. So wahrscheinlich, daß ich zwar nicht sage, ich kann es garantieren, aber: ich rechne damit, daß es mit hoher Wahrscheinlichkeit so kommt! Alles andere wäre eine Anmaßung von Wissen im Hayek’schen Sinne. 






Dr. Markus Krall, war für zahlreiche Unternehmen tätig, darunter Allianz, McKinsey, Boston Consulting Group oder Roland Berger Strategy Consultants. Seit September ist er Vorstandsmitglied und Sprecher der Geschäftsführung der Degussa Goldhandel GmbH. Außerdem leitet er die „Atlas-Initiative für Recht und Freiheit“, die sich für eine Besinnung auf die ursprüngliche sozialen Marktwirtschaft einsetzt. Bekannt wurde der Unternehmensberater, Risikomanager und Publizist durch seine Medienauftritte, etwa im Focus, Cicero, Deutschlandfunk, in der NZZ oder im britischen Spectator sowie durch seine Bücher „Der Draghi-Crash. Warum uns die entfesselte Geldpolitik in die finanzielle Katastrophe führt“ (2017) und „Wenn schwarze Schwäne Junge kriegen. Warum wir unsere Gesellschaft neu organisieren müssen“ (2018). Geboren wurde der Volkswirt 1966 in Aschaffenburg.  

Foto: Verzweifelter vor fallenden Kursen: „Ich schätze, der Crash kommt im dritten, vierten Quartal 2020. Ich garantiere es nicht, ich schätze es ... da dann die Wahrscheinlichkeit am größten ist“

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