© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/19 / 13. Dezember 2019

Sozialismus bleibt eine Alternative
Auf der Flucht aus der Stadt der reinen Vernunft ins Berliner Gehäuse der Hörigkeit: Der Ostpreuße Oskar Negt legt mit „Erfahrungsspuren“ den zweiten Teil seiner Autobiographie vor
Wolfgang Müller

Wohl kein Linksintellektueller außer Oskar Negt liest regelmäßig den Wehlauer Heimatbrief. Und selbst wenn jemand aus diesem mit Geographie und Geschichte der deutschen Ostprovinzen arg fremdelnden Milieu entdecken würde, daß der Landkreis Wehlau bis 1945 dreißig Kilometer östlich von Königsberg zu finden war, reichte es allenfalls zum messerscharfen Schluß, ein solcher Heimatbrief  könne nur ein Periodikum von und für „Revanchisten“ sein.

Früh im Bannkreis Horkheimers und Adornos

Über diesen Verdacht ist Oskar Negt selbstverständlich erhaben. Als Student seit 1957 früh im Bannkreis Max Horkheimers und Theodor W. Adornos, als Hochschullehrer, Publizist, Erwachsenenpädagoge und „konstitutioneller Sozialdemokrat“ sich stets als treuer Fortsetzer ihrer „Frankfurter Schule“ verstehend,  gilt  dieser Verfechter eines undogmatischen Marxismus, der über Jahrzehnte an der TU Hannover lehrte, unumstritten als wirkmächtigster Sozialtheoretiker der alten Bundesrepublik.

 Aber was hat das mit dem Kreis Wehlau zu tun? Simpel-vordergründig lautet die Auskunft: Negt ist dort geboren, am 1. August 1934 in Kapkeim, einem Dorf dicht an der Grenze zum westlichen Nachbarkreis Königsberg-Land. Über sein Dasein als „Boawke“, als siebentes Kind in einer kleinbäuerlichen Familie, über die abenteuerliche Flucht, gestartet in letzter Minute Ende Januar 1945, die ihn, behütet allein von seinen fabelhaft couragierten Schwestern Ursel und Ruth, 16 und 17 Lenze jung, nach Wochen in der Festung Königsberg, halb verhungert, aber unversehrt, schließlich nach Pillau und auf ein rettendes Schiff Richtung Kopenhagen brachte, berichtet Negt im ersten Band seiner Autobiographie mit dem trefflichen Titel „Überlebensglück“ (2016), die er jetzt mit „Erfahrungsspuren“ fortsetzt, die von den akademischen Lehr- und Wanderjahren in der Adenauer-Ära bis zur Gegenwart führen.

In beiden Bänden nehmen Reflexionen über Heimat, über die „Charakterverbindung“ zwischen Ort und Person, über die Bedeutung „vertrauter und befriedigender Näheverhältnisse“ in Kindheit und Jugend, über das „zutiefst menschliche Bedürfnis“ nach Heimat, dem „territorialen Satisfaktionsraum“ (so die von Negt leider unbeachtete Ethnologin Ina-Maria Greverus), der „Kraftquelle für ein ferneres angstfreies Leben“ sei, viel Platz ein und erschließen den Integrationskern von Negts Sozialphilosophie. Denn mit Adorno darin übereinstimmend, daß „Treue zur Kindheit eine zur Idee des Glücks“ sei, gemeindet sein privater Glücksatlas Kapkeim kurzerhand in die ostpreußische Landeshauptstadt ein. Der Antwort auf die Frage, wo er herkomme, „bei Königsberg“ hinzufügen zu dürfen, das mache ihn „durchaus stolz, so als wäre ich dort geboren“. Die „Denkatmosphäre“ der Stadt, aufgehoben in der Philosophie seiner Landsleute und Hausgötter Immanuel Kant und Hannah Arendt, habe sich als „wesentlicher Orientierungspunkt meiner Bildungsgeschichte“ erwiesen. Negts scheinbar nostalgisch-sentimentale Anhänglichkeit an die Heimat gewinnt in solchen Konfessionen prinzipielles Gewicht. 

Das frühe Kapkeimer Glück im Winkel projiziert er auf die geistig weiten Horizonte und historisch tiefen Dimensionen der „Stadt der reinen Vernunft“. Um – Jürgen Mantheys Konstrukt von der „Weltbürgerrepublik“ am Pregel übernehmend – das alte Königsberg als „moderne Stadtutopie“ zu vergegenwärtigen, deren Modellfunktion noch „unabgegolten“ sei. Habe sich hier doch „die Idee einer besseren Welt“ immerhin in Ansätzen realisiert, seien Konturen des Vorscheins auf eine Menschheit zu erkennen, die auf Gewalt zur Regulierung ihrer Angelegenheiten verzichte. Königsberg wird derart zur Chiffre für Negts „Vernunftglauben“ an die Möglichkeit, eine glückliche Gesellschaft rational und gerecht zu organisieren. Vorausgesetzt, es gelinge der „Theoriearbeit“, den Massen ein Bewußtsein für „gesellschaftliche Abhängigkeiten und Perspektiven ihrer Veränderung“ zu vermitteln. Mit dem Untergang des Sowjetimperiums habe sich dieses „Projekt Aufklärung“ mitnichten erledigt, bestehe der „emanzipatorische Wille zur Humanisierung der menschlichen Existenzweise“ ungebrochen fort. Daher bleibe die sozialistische Utopie eine Alternative zum „Bindungslosigkeit“ fördernden, „Traditionsblöcke“ wie Heimat und Nation aufsprengenden „universalisierten Kapitalismus“, der den Planeten verwüste.

Gemeinplätze zur Flüchtlingskrise

Das klingt plausibel und kommt so sympathisch rüber wie die ganze kompakte Gestalt des eigensinnig-kernigen Ostpreußen. Bis dem Leser jene endlosen, unter dem Eindruck der auf Dauer gestellten „Flüchtlingskrise“ abgefaßten Polemiken sauer aufstoßen, die das Hohelied auf den kantischen Selbstdenkertyp und den aufklärerischen Imperativ „Wage zu wissen!“ abrupt beenden. Stattdessen gibt der Philosoph und Soziologe seinen kritischen Verstand an der Garderobe ab, kolportiert jeden Gemeinplatz regierungsfrommer Medien und huldigt in erschütternd infantiler Manier dem herrschenden, so irrationalen wie gemeingefährlichen Hypermoralismus, der verlangt, allen seit 2015 Einströmenden hierzulande „Daueraufenthalt“ zu gewähren.

Gewöhnt ist man solchen Aberwitz vom linken, seit langem in der Mitte der Gesellschaft verankerten Narrensaum. Hingegen ein Kopf wie Negt, der die Festigung „politischer Urteilskraft“ zu seiner volkspädagogischen Kernkompetenz zählt, erklärt damit seinen Bankrott als Denker, flieht ins Berliner „Gehäuse der Hörigkeit“ und übt feigen Verrat an der Vernunft.

Oskar Negt: Erfahrungsspuren. Eine autobiographische Denkreise, Steidl Verlag, Göttingen 2019, gebunden, 381 Seiten, Abbildungen, 28 Euro