© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/19 / 13. Dezember 2019

Privatdetektiv mit Tourette-Syndrom
Baulöwen, Immobilienhaie und politische Korruption: „Motherless Brooklyn“ von und mit Edward Norton startet diese Woche im Kino
Dietmar Mehrens

Das ist kein Programm zur Beseitigung von Slums, das ist ein Programm zur Beseitigung von Negern“, beschweren sich schwarze Anwohner auf einer Protestkundgebung über den Ausverkauf ihres Brooklyner Wohngebiets. Das Zitat aus „Motherless Brooklyn“ von und mit Edward Norton zeigt zweierlei: erstens daß der Film in einer Zeit spielt, in der eine umtriebige Sprachpolizei bestimmte Vokabeln noch nicht auf den Index gesetzt hatte, und zweitens, daß Stadtplanung und Korruption auch zu jener Zeit, den von Aufbruchsstimmung geprägten Nachkriegsjahren, bereits untrennbare Zwillingsgeschwister waren.

Dreh- und Angelpunkt der schmutzigen Geschäfte von Baulöwen und Beamten der New Yorker Stadtverwaltung ist der selbstherrliche Moses Randolph (Alec Baldwin), eine Art Bonaparte des Bauwesens, einer, der auf das Leben von Millionen pfeift, wenn er damit seine großspurigen Visionen verwirklichen kann. Randolphs Übermacht zu spüren bekommt der Privatdetektiv Frank Minna (Bruce Willis), dem zu Beginn des Films eine fatale Fehlkalkulation mit tödlichen Folgen unterläuft: Er glaubte Randolph erpressen zu können. 

Brooklyn (Edward Norton), der eigentlich Lionel Essrog heißt und für Minna gearbeitet hat, ist ein unter dem Tourette-Syndrom leidender Waisenknabe, aber, wie sich bald erweist, kein Kind von Traurigkeit. Da er in dem Verblichenen eine Art Vaterersatz sah, wird er von dem Ehrgeiz ergriffen herauszufinden, was für ein gefährliches Geschäft Minna vor seinem vorzeitigen Ableben anzubahnen im Begriff war. Das Ziel: Minnas Tod rächen.

Essrogs Nachforschungen führen zu der farbigen Bürgerrechtlerin Laura Rose (Gugu Mbatha-Raw), die an der Seite der gut vernetzten Gabby Horowitz (Cherry Jones) gegen die fragwürdigen Geschäfte der korrupten Stadtplaner kämpft. Aber sind sie dem skrupellosen Spekulanten-Kartell gewachsen?

Edward Norton stellte sich nach fast zwanzig Jahren zum zweiten Mal der Doppelbelastung als Regisseur und Hauptdarsteller. Es hat sich gelohnt. Ihm ist ein grandioser Gangster- und Politkrimi gelungen, der inhaltliche Nähe erkennen läßt zu Roman Polanskis Klassiker „Chinatown“ (1974) und dem weniger klassischen „Broken City – Stadt des Verbrechens“ (2013) mit Russell Crowe als in illegale Immobiliengeschäfte verstricktem Bürgermeister.

Die Bildgestaltung, die den Zuschauer in das New York der fünfziger Jahre entführt, ist in jeder Einstellung exzellent. Und auch wenn in der zweiten Regiearbeit des Schauspielers noch nicht alles hundertprozentig zusammenpaßt – insbesondere die Romanze zwischen Essrog und Laura Rose wirkt mehr gewollt als gekonnt –, so ist Norton doch eine großartige Hommage an Hollywoods Schwarze Serie mit Filmen wie der Raymond-Chandler-Verfilmung „Tote schlafen fest“ (1946) gelungen.

Das auf einem Roman von Jonathan Lethem beruhende Drehbuch ist so ungewöhnlich wie sein Protagonist. Der Film verzichtet wohltuend auf  konturlose Oberschurken und die sonst in dem Genre übliche Verbal-Kraftmeierei mit „F“-Wörtern, bis der Arzt kommt. Norton, der auch das Drehbuch schrieb, geht zwar erzählerisch nicht völlig neue Wege, doch sie sind immer neu und originell genug, um über die gesamte Spieldauer von fast zweieinhalb Stunden zu fesseln. Das macht „Motherless Brooklyn“ zur perfekten Alternative zum neunten Teil der mit Digitalspezialeffekten überladenen „Krieg der Sterne“-Saga, der auch noch vor Weihnachten in die Kinos kommt.