© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/19 / 13. Dezember 2019

Unkraut auf der Wiese der Sinngebung
Der Philosoph Alexander Grau über Politik und Gesellschaft im Zeitalter der absoluten Verkitschung
Ludwig Witzani

Der Kitsch gehört zu den Schlüsselphänomenen unserer Epoche. In seinen verschiedenen Erscheinungsformen hat er sich zu einem moralisch aufgeblähten Kommunikationsmedium entwickelt, dessen Verbreitung den politischen Diskurs zerstört. Omas kämpfen gegen Rechts, Schulschwänzer hüpfen für den Frieden, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Wie ist das möglich, und wie hat es so weit kommen können? Alexander Grau versucht in dem vorliegenden Buch „Politischer Kitsch“ diese Fragen zu beantworten

Es kennzeichnet den systematischen Ansatz des Buches, daß der Autor die offensichtliche Verkitschung der Gesellschaft nicht einfach auf die Bösartigkeit ihrer Schöpfer oder die Dummheit der Rezipienten zurückführt. Kitsch entsteht vielmehr aus der Dualität des menschlichen Weltzugangs, das heißt aus der Spannung von Rationalität und Emotionalität und dem Wunsch nach einfachen, „ganzheitlichen“ Antworten auf die Herausforderungen einer unübersichtlichen Realität. Kitsch ist eine Art Unkraut auf der großen Wiese der Sinngebung und besitzt als Kitschbedürfnis eine starke Affinität zur Religion.  

Diesen anthropologischen Denkansatz vertieft der Autor in einer kleinen Kulturgeschichte des Kitsches, die zu den anregendsten Teilen des Buches gehört. Im Unterschied zur brutal realistischen Antike erweist sich die frühchristliche Trennung von diesseitiger und jenseitiger Welt als durchaus kitschanfällig, weil sie in der Gefahr steht, die Realitätsbezüge zu übertünchen. Diese mögliche Fehlentwicklung sei jedoch, so Grau, durch die Präsenz des diesseitigen Opfertodes Jesu bis in die europäische Neuzeit hinein vermieden worden. Erst mit dem Protestantismus und insbesondere mit dem Pietismus erfährt die Kitschgefährdung des Christentums einen gewaltigen Schub: „So versenkt sich die pietistische Frömmigkeit schwärmerisch in die eigene Schwärmerei. Entsprechend mutiert unter pietistischen Vorzeichen der christliche Glaube zu enthusiastischer Sentimentalität und der Protestantismus zu antiintellektueller Gefühligkeit.“

Von dieser Art der Frömmigkeit ist es für den Autor nur ein kurzer Weg zur Romantik, die die Kunst und den verinnerlichten Kunstgenuß in den Rang der Religion erhebt. Das Bürgertum, eingeklemmt zwischen dem in der Vergangenheit fundierten Adel und dem auf die Zukunft hin ausgerichteten Proletariat flüchtet sich die Verklärung der Gegenwart. Der romantische Moment der Selbstergriffenheit wird zur Quelle des sogenannten „kitschigen Bewußtseins“, das die Welt nicht nur emotional verklärt, sondern sich wie ein säkularisierter Pietist an dieser Verklärung auch noch berauscht. Der auf diese Weise aufgeblähte Kitsch als Schwundform des öffentlichen Bewußtseins expandiert und greift auf andere Lebensbereiche wie Liebe, Naturerleben, Ethik und Politik über.    

Als Geburtsstunde des politischen Kitsches identifiziert Grau das „Fest des höchsten Wesens“ am 8. Juni 1794. Maximilien de Robespierre, der radikale Führer der Französischen Revolution,  hatte erkannt, daß die Revolution, die die alten Autoritäten abgeschafft hatte, neuer Legitimationsquellen bedurfte und fand sie im theatralischen Kult ihrer selbst. Diese Verkitschung der öffentlichen Selbstlegitimation wurde mitsamt ihren Paraden, Aufmärschen und Denkmälern zu einem Erfolgsmodell des 19. Jahrhunderts.  

Nach dem Ersten Weltkrieg verwandelte sich der stark vergangenheitsbezogene bürgerliche Kitsch zum „totalitären Kitsch“, insofern sich sein Fokus von der Vergangenheit in die Zukunft,  ins „Visionäre“, verschob. Ihm folgte nach dem Zusammenbruch des linken und rechten Totalitarismus der „absolute Kitsch“ als finales Stadium der gesellschaftlichen Verkitschung. Im absoluten Kitsch verbinden sich infantile Autonomiesehnsüchte des Subjekts mit Selbstberauschung und Theatralik zur absoluten Negierung der Realität. 

Die Wirklichkeit wird ihres Realitätsgehaltes entkleidet und durch eine sinnfrei um sich selbst kreisende Kritik zur bloßen „Konstruktion“ herabgestuft. Selbst grundlegende Fakten wie die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen werden in Zweifel gezogen, ebenso die Existenz von Nationen, Klassen oder Institutionen. Diese Realitätsnegierung ist nur möglich durch eine konsequente Moralisierung aller Lebensbezüge, besser gesagt: durch die Substitution der Wahrnehmung durch Empfindung. Erst wenn die Wirklichkeit mit der Empfindung über die Wirklichkeit gleichgesetzt wird, hat die Autonomie des Individuums ihren Zenit erreicht. 

Daraus folgt: „Politischer Kitsch ist die Proklamierung von Unterkomplexität. Im Grunde ist alles einfach, man braucht nur Menschlichkeit, ein gutes Herz, Nächstenliebe, Empathie oder was auch immer. Wenn alle Menschen nur gut wären, dann könnte die Welt doch so gut sein.“ Die Beiträge von Hollywoodgrößen, öffentlich-rechtlich alimentieren Künstlern und Mainstream-Literaten zu Klimawandel und Migration lassen grüßen.   

Diesem hier nur in Grundzügen skizzierten Siegeszug des kitschigen Bewußtseins ist der Deutsche übrigens in ganz besonderer Weise verfallen. „Das wonnige Grausen, der erhabene Schauer gehört zur deutschen Gemütslage wie Popcorn zum Kino“, schreibt Grau. „Also entzückt man sich an Untergangsszenarien aller Art, vom Waldsterben über den Atomtod, dem Ozonloch, dem sauren Regen bis zur anbrechenden Eiszeit oder Erderwärmung. Konsequenterweise wird eine Apokalypse nach der anderen fantasiert.“ Da sich aber keine Gesellschaft auf Dauer vor der Realität verschließen kann, wird es ein böses Erwachen geben. Denn, so Grau: „Dieser Ungeist (ist) vor allem auch das Produkt prosperierenden Massenwohlstandes. Man braucht deswegen kein Zyniker zu sein, um die Erwartung zu hegen, daß sich das Problem des kitschigen Politikbewußtseins zumindest teilweise von selbst löst.“

Alexander Grau hat mit dem vorliegenden Buch auf engem Raum und in scharfer Zuspitzung eine neue Perspektive etabliert, mit der bislang disparate Phänomene in einem neuen Kontext anders und besser verstanden werden können. Der vollständige Abschied vom rationalen Diskurs, die aggressive Ausgrenzung rational argumentierender Antagonisten, die moralisch unterfütterte Selbstverblendung und die entsetzlich albernen öffentlichen Darstellungsformen verbinden sich zum Gesamtbild einer verkitschten Gesellschaft, die ein völlig unzutreffendes Bild ihrer selbst kultiviert. Sie als solche zu dekuvrieren kann als ein erster Akt des Widerstandes verstanden werden. 

Daß die rasante kulturgeschichtliche tour d’horizon durch die Jahrtausende notwendigerweise in sehr großem Karo daherkommt, wird man dem Autor nicht ankreiden können. Über den Sprung vom Pietismus zur Romantik oder die Rolle der Massenmedien für den Aufstieg des kitschigen Bewußtseins zum „Goldstandard“ würde noch manches zu diskutieren sein. Es gehört aber gerade zu den Vorzügen sehr guter Bücher wie dieses von Alexander Grau, nicht nur neue Blickwinkel zu eröffnen, sondern auch Nachfragen zu provozieren, die nichts anderes darstellen als ein Weiterdenken auf dem Pfad, den der Autor geschlagen hat.

Alexander Grau: Politischer Kitsch. Eine deutsche Spezialität. Claudius Verlag, München 2019, gebunden, 128 Seiten, 14 Euro