© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/19 / 13. Dezember 2019

Ein neuer Tsunami der Automatisierung
Anwendungen der Künstlichen Intelligenz (KI) und der radikalen Digitalisierung erobern die Arbeitswelt
Oliver Busch

Auch wer sich wenig für Künstliche Intelligenz (KI) interessiert, erinnert sich sicher an den Medienlärm, der 1996 entstand, als der Schachcomputer „Deep Blue“ den Weltmeister Garri Kasparow schlug. Rückblickend hält Yulia Sandamirskaya die damalige Aufregung für übertrieben. Die Weißrussin, die am Institut für Neuroinformatik (ETH Zürich) die Arbeitsgruppe „Neuromorphe kognitive Computer“ leitet, zeigt, warum die KI-Bäume seither nicht in den Himmel wuchsen (UZH-Magazin, 2/19). „Deep Blue“ konnte mehr als ein Roboter: die Figuren sehen, sie greifen, und am Ende der Partie aufstehen und einfach weggehen.

Millionen Berechnungen pro Sekunde erforderlich

Solche Fähigkeiten nennt Sandamirskaya „emboddied intelligence“, verkörperte Intelligenz. Menschen und alle Tiere, selbst jene, mit relativ einfachem Nervensystem wie Bienen, die über weite und gewundene Strecken ausschwärmen und die doch auf kurzen, direkten Wegen zum Stock zurückfinden, haben diese Art Intelligenz. Trotz KI sei man hinsichtlich dieser für Menschen wie Bienen selbstverständlichen verkörperten Intelligenz bei Maschinen „noch nicht viel weiter als 1996“, habe also nicht einmal Bienen-Niveau erreicht. So besiege das Computerprogramm AlphaGo heute zwar die weltbesten Champions im komplexen strategischen Brettspiel Go, aber die Spielsteine könne es so wenig verschieben wie „Deep Blue“ die Schachfiguren.

Sandamirskaya arbeitet daran, das zu ändern, indem sie Roboter konstruiert, die selbständig auf ihre Umgebung reagieren und sich in dieser bewegen. Mit solchen intelligenten Maschinen der Zukunft will die Informatikerin „die Mensch-Maschine-Beziehungen grundlegend verändern“. Den Schlüssel dazu liefern neuronale Netzwerke, die elektronischen Schaltkreisen nachgebildet sind und Leistungen des menschlichen Hirns imitieren. Wie etwa das Erkennen von Objekten (JF 27/18). Nur müssen diese Systeme dafür trainiert werden.

Was „unglaublich“ großen Aufwand erfordere, denn um einen Fußgänger als solchen identifizieren zu können, würden dem Netzwerk Millionen von Bildern von Fußgängern gezeigt. Wenn darunter kein Mensch mit langem Wintermantel ist, funktioniert das System nur bei sommerlich gekleideten Passanten. Menschen lernen anders, erläutert Sandamirskaya. Einem Kind müsse man nicht eine Million Katzenbilder zeigen, damit es wisse, was eine Katze ist. Dafür reiche eine einzige Katze.

Der Traum der Neuroinformatiker sei ein System, für das Lernen ein ähnliches „Kinderspiel“ sei, aber davon „ist man noch weit entfernt“. Menschliche Neuronen arbeiten zwar langsamer als neuronale Netzwerke, die Millionen von Berechnungen pro Sekunde ausführen, aber sie sind flexibler und adaptiver als ihre digitale Konkurrenz. Hinter der blieben sie deshalb zwar bei der Bilderkennung, nicht aber bei der anspruchsvolleren Spracherkennung weit zurück. Noch schwieriger sei es, ein komplexes Robotersystem so zu steuern, daß es „sicher, effektiv und adaptiv Aufgaben in alltäglichen Situationen erledigen kann“.

Aber bereits damit, wie die Züricherin Forscherin berichtet, „mein iPhone vom Tisch aufzuheben und in die Hand zu nehmen, ist der Roboter heute noch überfordert“. Derzeit „können sie bestimmte Sachen, aber alles zusammen geht noch nicht“. Wenn sie sich dereinst nur so gut orientieren könnten wie Bienen, wäre das ein „großer Erfolg“.

Weil die KI-Forschung ihre Grenzen kenne, würden Roboter Menschen nur partiell ersetzen, aber niemals verdrängen oder gar beherrschen, ergänzt die Philosophin Eva Weber-Guskar (Uni Bochum). Maschinen würden nie fühlen wie Menschen, da KI kein Bewußtsein ihrer selbst habe. Es sei auch nicht vorstellbar, daß Roboter dies vom Menschen lernend je entwickeln. Denn dazu müßte die Hirnforschung wissen, wie aus biologischen Prozessen, die sie als elektrochemische Vorgänge allenfalls zu beschreiben vermag, menschliches Bewußtsein entsteht. Solange sie das nicht weiß und dieses große Welträtsel ungelöst bleibt, „dürfte es unmöglich sein, eine Maschine zu bauen, die das kann“.

Wegfall traditioneller Mittelschicht-Arbeitsplätze

Trotzdem, so wendet David Hémous (Uni Zürich) ein, mache sich bemerkbar, wie Maschinen immer intelligenter würden und Algorithmen Menschen in vielen Arbeitsbereichen abzulösen beginnen. Der VWLler, der sich anders als Sandamirskaya nicht mit der Zukunft, sondern mit der Gegenwart der Digitalisierung befaßt, ist Realist und Optimist. Der Einsatz hocheffizienter neuronaler Netzwerke werde zwar Massen von Arbeitsplätzen vernichten, in Reisebüros, Finanzämtern oder Anwaltskanzleien genauso wie in radiologischen Praxen, wo Maschinen Tumore sicherer erkennen als das Auge des Arztes. Aber kompensiert würde dieser Wegfall traditioneller Mittelschicht-Arbeitsplätze durch neue KI-Jobs für Ingenieure und Programmierer. Durch den Rost fielen allerdings geringer qualifizierte Dienstleister, so daß die Automatisierung, wie in den USA seit langem zu registrieren sei, „Ungleichheit“ leider verschärfe.

Noch pessimistischer schätzt die Doyenne der deutschen Globalisierungskritik, die Berliner Politologin Birgit Mahnkopf, die Folgen „falscher Versprechen des digitalen Kapitalismus“ ein (Blätter für deutsche und internationale Politik, 10/19). Nicht nur die Arm-Reich-Schere werde sich weiter öffnen, auch von der Humanisierung der Arbeitswelt mittels des „technologischen Schubs“ in der „Industrie 4.0“ könne kaum die Rede sein. Im Gegenteil: Laut DGB-Index „Gute Arbeit“ klage die Hälfte der Arbeitnehmer über „erhöhte Arbeitsbelastung durch Digitalisierung“.

Zudem fehlten für die von der Bundesregierung, Arbeitgebern und auch den Gewerkschaften ausgerufene „digitale Revolution“ schlicht die Voraussetzungen, etwa flächendeckend installierte Glasfasernetze. Auch sonst sei technologisch wenig vorbereitet für „intelligente Fabriken, Büros, Logistiksysteme“, die standardisierte Schnittstellen für Anwendungsprogramme erfordern, eine gemeinsame Datensprache, die Integration autarker Systeme.

Nur China habe hier wieder einmal die Nase vorn. Mit Hilfe des Schweizer Industriekonzerns ABB entstehe in Shanghai eine hypermoderne Produktionsstätte. In der Roboter und Arbeiter gemeinsam neue Roboter fabrizieren sollen. Voraussichtlich 100.000 Stück jährlich, ein Viertel der heutigen Weltproduktion. Die International Federation of Robotics rechnet daher für 2021 damit, daß in Asien 500.000 Roboter „werktätig“ sind, in Europa 100.000, in den USA 64.000. Da künde sich weltweit ein Tsunami der Automatisierung an. Mit der Folge, daß die Digitalisierung immer weniger Ländern Wachstumspfade eröffne.

Themenheft „Wir und die Maschinen. Fakten, Fakes und Fiktionen“ (UZH-Magazin 2/19):

 www.magazin.uzh.ch/

 sandamirskaya.eu

 econ.uzh.ch





Was bedeutet die Industrie 4.0?

Die Produktion ist seit Jahrhunderten im Wandel: Nach der Mechanisierung im 18. Jahrhundert (Industrie 1.0), der Massenproduktion durch Elektrizität im 19. Jahrhundert (Industrie 2.0) und der Computerisierung im 20. Jahrhundert (Industrie 3.0) folgt nun die Industrie 4.0: Menschen, Maschinen, Anlagen, Logistik und Produkte kommunizieren direkt miteinander – dank Künstlicher Intelligenz (KI). Herkömmliche Strukturen werden durch selbststeuernde und vernetzte Produktionssysteme ersetzt. Nicht nur Fertigungsberufe, auch Rechnungskontrolle, Meldesysteme oder Lohnbuchhaltung werden umfassend automatisiert. Bis zu einem Viertel der Bürojobs dürften wegfallen. Schätzungen gehen von 3,5 bis 4,5 Millionen  gefährdeten Arbeitsplätzen aus (IAB Forschungsbericht 8/15). Viele der so „Freigestellten“ werden im Niedriglohnsektor landen, denn Tätigkeiten wie Reinigung, Sicherheitsdienste und medizinische Tätigkeiten lassen sich  noch nicht substituieren. (fis)

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