© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/19 / 20. Dezember 2019

„Die Stunde Null ist gekommen“
Libyen: Erneut propagiert General Khalifa Haftar den „totalen Sturmangriff“ auf Tripolis
Marc Zoellner

Der Häuserkampf hat begonnen: Dichte Rauchwolken verhüllten Tripolis am Wochenende, als bewaffnete Einheiten der Libyschen Nationalen Armee (LNA), geschützt von gepanzerten Fahrzeugen sowie gedeckt vom Sperrfeuer der Artillerie, in die südlichen Wohnviertel der gut 1,8 Millionen Einwohner zählenden libyschen Hauptstadt vordrangen. 

Bereits am Vortag hatte die in Tripolis ansässige Regierung der Nationalen Einheit (GNA) weitere Milizen ausgehoben und zur allgemeinen Mobilmachung aufgerufen, um neben der Verstärkung der innerstädtischen Verteidigung auch zum Flankenangriff auf den von der LNA besetzten Internationalen Flughafen überzugehen. Doch die Gegenangriffe der GNA wurden weiträumig zurückgeschlagen. Stattdessen geriet selbst das gut 200 Kilometer weiter östlich gelegene, mit der GNA verbündete Misrata ins Fadenkreuz von Kampffliegern der Nationalarmee. Seit April dieses Jahres hatte Libyen keine derart erbitterten Schlachten mehr erleben müssen wie zum vergangenen Wochenende.

Haftar will Macht der Islamisten beenden 

Eine „letzte Schlacht“ gegen Tripolis hatte Khalifa Haftar, der Oberkommandierende der LNA, bereits im Frühling versprochen, war jedoch mit dem Verlust der strategisch bedeutsamen Stadt Garian im Zentrum der Provinz Tripolitanien in seinem ersten Vormarsch ausgebremst worden (JF 28/19). 

Diesmal scheint der 76jährige seine Drohungen ernster zu nehmen: „Die Stunde Null ist gekommen für den breiten und totalen Sturmangriff, den jeder freie und ehrliche Libyer lange herbeigesehnt hatte“, erklärte er im Fernsehen. Den Ansturm begleiteten in den sozialen Netzwerken verbreitete Aufnahmen von Luftangriffen, von zerstörten Einsatzfahrzeugen der GNA sowie vom Abschuß einer Bayraktar-TB2-Drohne, die mutmaßlich der türkischen Armee gehörte.

Haftars jüngste Offensive könnte die letzte Runde in einem Bürgerkrieg einläuten, der seit fünfeinhalb Jahren den ölreichen Flächenstaat in seiner Entwicklung lähmt, bislang über neuntausend Tote sowie Hunderttausende an Vertriebenen verursachte und in den vergangenen Jahren zum ausgemachten Stellvertreterkrieg anwuchs. 

Seit die radikalen Islamistenmilizen, die vormals Tripolis besetzt hielten, im Mai 2014 aus der libyschen Hauptstadt vertrieben worden waren, besitzt Libyen de facto gleich zwei Regierungen: die international anerkannte GNA unter Ministerpräsident Fayiz as-Sarradsch, die lediglich den Norden Tripolitaniens kontrolliert, sowie den Abgeordnetenrat, das derzeit in Tobruk residierende libysche Parlament, welches die beiden anderen historischen Großprovinzen des Landes, die Cyrenaika und den Fessan, beherrscht. Mit letzterem ist Haftar verbündet. Kritiker werfen dem General vor, das Parlament lediglich zu instrumentalisieren, um mittels der LNA, die allein Haftar untersteht, eine Militärdiktatur in Libyen zu errichten.

International erfährt Haftar in dessen Kampf gegen die Moslembruderschaft und andere islamistische Gruppierungen, die maßgeblichen Einfluß auf die Regierung in Tripolis besitzen, besonders von Saudi-Arabien, Ägypten sowie den Vereinigten Arabischen Emiraten großzügige Unterstützung. 

Griechenland empört über Ankaras Libyen-Einsatz

Auch Rußland hatte sich vor Jahren bereits auf seiten der LNA geschlagen. Bis zu 800 Söldner der privaten russischen Gruppe Wagner, bezichtigten die Einheitsregierung sowie die USA jüngst Moskau des Embargobruchs, kämpften derzeit in den Vororten Tripolis’ gegen die Truppen der GNA. „Die Zähigkeit der russischen Söldner, ihre tödlichen Techniken sowie ihre disziplinierte Vorgehensweise flößen den Anti-Haftar-Truppen regelrechte Angst ein“, bestätigt der Libyenexperte Jalel Harchaoui die Anwesenheit russischer Truppen im Interview mit dem katarischen Nachrichtensender Al Jazeera.

Mit dem Abschuß einer US-Drohne über Tripolis gelang der Gruppe Wagner Ende November ein besonderer Coup: Immerhin stehen Washington und Moskau seit April 2019, als US-Präsident Donald Trump seine offenen Sympathien für Haftar bekundete, auf der gleichen Seite. Als „Verwechslung mit einem feindlichen Flugzeug“ relativierte der Kreml die Eskapade der Milizionäre. „Dieser Vorfall unterlegt jedoch deutlich den unheilvollen Einfluß russischer Söldner auf den Ausgang des Bürgerkriegs“, kommentierte Stephen Townsend, Kommandeur des United States Africa Command, den Verlust seiner Überwachungsdrohne. „Diese Leute sind direkt verantwortlich für den neuesten Zuwachs an Kämpfen, an Opfern und an Zerstörung rund um Tripolis.“

Durch den Frontenwechsel der USA findet sich die GNA derzeit weitgehend isoliert. Einzig Katar und die Türkei versprechen sich noch moderate Chancen auf einen Sieg der Einheitsregierung. Erst Anfang Dezember unterzeichneten Ankara und Tripolis ein Abkommen zur militärischen Kooperation beider Länder sowie über eine gemeinsame, quer durch das Mittelmeer verlaufende Seegrenze. 

Empört reagierte daraufhin Griechenland, das sich seiner eigenen Hoheitsrechte im Mittelmeer plötzlich beschnitten fand – und wies sogleich den libyschen Botschafter aus Athen aus. Gemeinsam mit Ägypten, Israel und Zypern hatte Griechenland unlängst sein Augenmerk auf neu entdeckte Erdgasvorräte in eben jenen Gewässern gerichtet. Der türkische Präsident Erdogan setzt nun daran, in Kooperation mit der GNA selbst Kapital aus diesem Vorkommen zu schöpfen. 

Athen beschuldigt Ankara, Tripolis mit Waffenlieferungen für dessen Zustimmung bestochen zu haben. Der Abschuß jener türkischen Drohne durch die LNA ist den Griechen ein weiteres Indiz ihrer These. Und auch die Türkei macht längst keinen Hehl mehr daraus, wie wert ihr das Erdgasfeld tatsächlich ist: Selbstredend werde die Türkei ihre Truppen nach Libyen entsenden, „sollte die libysche Regierung uns dazu einladen“, erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan.