© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/19 / 20. Dezember 2019

„Effi Briest“ in der welthaltigen Provinz Pommern
Globale Ignoranz
(ob)

Sandra Richter, Germanistin und Leiterin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, hat im Jubiläumsjahr Theodor Fontanes „Effi Briest“ (1894) neu gelesen. Wie das heute in ihrer Disziplin so Mode ist, rückt sie den Roman aus wilhelminischer Zeit in den Kontext der frühen „Globalisierung“ und wagt einen Vergleich mit der zeitgenössischen Kolonialliteratur (Weimarer Beiträge, 2/2019). Offenbar mit den Verhältnissen in der erzählten Provinz nicht vertraut – der Hauptschauplatz „Kessin“ hat Fontanes Kindheitsheimat, das deutsche Ostseebad Swinemünde, zur Vorlage –, erhebt Richter diesen westlichen Teil Pommerns zum „Vielvölkereck des Nordostens“ und zum  „globalen Handelsstützpunkt“. Die dort angesiedelte Handlung präsentiere eine preußische Adelsgesellschaft, die von antipolnischen Affekten beherrscht werde, deren Gespräche sich „imperialistische Projektionen und koloniale Bilder“ drehten, und die sich vor allem durch „globale Ignoranz“ auszeichne. Als „prototypisches Werk des 19. Jahrhunderts“ zeige „Effi Briest“ zwar, wie Richter aus marginalen Bezügen des Textes folgert, wie global das Denken um 1890 war „und daß selbst die pommersche Provinz welthaltig“ gewesen sei. Aber zugleich spiegele der Roman wider, was für Richter offenbar eine tolle Entdeckung ist: Das Globale sei in der Kaiserzeit primär national wahrgenommen worden. Mit der von Fontane, dem Kritiker der imperialistischen Suche nach einem „Platz an der Sonne“, dargestellten Konsequenz, daß der „globalisierte Nationalismus“ des neudeutschen Kolonialismus „inhumane Mentalitäten der verfallenden Adelswelt“ zugleich offenbare und stabilisiere. 


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