© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/19 / 20. Dezember 2019

Aus kindlicher Perspektive
Romanverfilmung: „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ von Caroline Link
Dietmar Mehrens

Grundschullehrer dürfen sich freuen: Endlich gibt es wieder einen Film, der sich ideal für Schulvorstellungen eignet, weil er jugendliche Zuschauer nicht nur anspricht, sondern auch über sittlichen Nährwert verfügt. Die deutsche Oscar-Gewinnerin Caroline Link, die bereits mit ihrem Kinodebüt „Jenseits der Stille“ (1996), der Erich-Kästner-Verfilmung „Pünktchen und Anton“ (1999) sowie voriges Jahr mit „Der Junge muß an die frische Luft“ nach dem autobiographischen Buch von Hape Kerkeling unter Beweis stellte, daß sie es hervorragend versteht, mit Kindern vor der Kamera zu arbeiten, knüpft nun mit einer weiteren Kinderbuchverfilmung an ihre früheren Erfolge an.

„Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ müßte man der Exilliteratur für Kinder zurechnen, würde es ein solches Genre geben. Judith Kerr schrieb in dem Roman, der 1974 den Deutschen Jugendbuchpreis gewann, ihre eigenen Erinnerungen an die Zeit nach der Machtergreifung nieder. Die im Mai in London verstorbene Autorin war die Tochter des jüdischen Journalisten Alfred Kerr, der, in einer Reihe stehend mit Alfred Polgar, Joseph Roth oder Herbert Ihering, zur Theaterkritik- und Feuilleton-Avantgarde der Weimarer Republik gehörte und bis 1933 für das Berliner Tageblatt schrieb.

Für ihr 1971 erschienenes Buch erfand die Autorin, die statt in ihrer Muttersprache lieber auf englisch schrieb, als anderes Ich für sich selbst ein sensibles Mädchen: die neunjährige Anna Kemper. Die Geschichte eines Exils in mehreren Etappen beginnt mit dem unerwarteten Aufbruch ihres Vaters Arthur nach Prag und mit zaghaften Andeutungen über eine neue Regierung, die gewählt werden könnte und unter der „niemand mehr sagen darf, was er denkt“, wie Annas Mutter es dem Mädchen zu erklären versucht. „Die Nazis wollen keine Leute, die anderer Meinung sind als sie.“ Prägnanter und zugleich kindgerechter kann man Totalitarismus – ob rechten wie damals oder linken, wie er heute Vorlesungen an deutschen Universitäten unterbindet – nicht auf den Punkt bringen.

Arthur Kemper – im Film verkörpert von Oliver Masucci, dem Hitler aus „Er ist wieder da“ (2015) – ist mit der Flucht nach Prag dem Entzug seines Passes zuvorgekommen. Als der Rest der Familie nach dem Reichstagsbrand die Berliner Wohnung räumt, ist zunächst nur die Rede von einer zweiwöchigen Reise in die Schweiz. Deshalb entscheidet sich Anna auch, statt ihres langjährigen rosa Spielgefährten lieber den noch fast neuen Stoffhund mitzunehmen – ein „arger Fehler“, wie sie erst später merken wird.

Von der Schweiz über Paris nach London 

Zur neuen Bleibe wird ein Gasthaus am Zürichsee. Hier müssen sich Anna und ihr großer Bruder Max darüber wundern, daß es Kinder gibt, die mit ihnen nicht spielen möchten. Und ihr Vater muß zur Kenntnis nehmen, daß Neutralität ihren Preis hat: Er findet nicht genügend Schweizer Blätter, die das Wagnis eingehen, einen von den Nationalsozialisten verfemten Autor für sie schreiben zu lassen. So wird Paris zur nächsten Station auf der Wanderschaft der Exilanten. Hier kämpfen Anna und Max vor allem mit der fremden Sprache. Annas Entdeckung, wie die französischen Wörter plötzlich wie von selbst kommen, gehört zu den schönsten Stellen in dem Buch. Auch die Art, wie Annas Vater den Begriff Flüchtling erklärt: „Man wohnt sein ganzes Leben lang in einem Land. Dann wird es plötzlich von Räubern übernommen, und man findet sich an einem fremden Ort, mit nichts“, wirkt im Europa der Gegenwart beklemmend aktuell.

Im Frankreich der dreißiger Jahre fühlt sich allerdings kein Sozialamt und keine Arbeitsagentur für die Neuankömmlinge zuständig. Wie prekär die Lage für Annas Eltern ist, offenbart ein Streit, der zwischen Vater und Mutter entbrennt, als er sich von dem Geld für einen Artikel in der Pariser Zeitung eine Nähmaschine andrehen läßt, die nichts taugt, während gleichzeitig die Familie mit der Miete im Rückstand ist und Anna neue Schuhe braucht. Als wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage in Frankreich das Geld immer knapper wird und Arthur in England ein Filmmanuskript verkaufen kann, zieht die Familienkarawane weiter.

Der konsequent aus kindlicher Perspektive erzählende Roman blickt auf die ersten Hitler-Jahre wie durch einen Türspion. Nur gelegentlich wird deutlich, was die Machtübernahme für jüdische Dichter und Denker bedeutete, denen eine zeitige Flucht versagt blieb. Es sind vor allem die Briefe von Onkel Julius, einem Freund Arthurs, der in Berlin zurückgeblieben ist, und schließlich die schreckliche Nachricht, welches Schicksal ihn ereilt hat, die etwas von dem Terror erahnen lassen, dem ausgesetzt war, wer dem Judentum angehörte oder einfach nur einer anderen Weltanschauung. Es sind gerade die Schlichtheit der Schilderung und der naive Blick der Protagonistin, die Minderjährigen einen Zugang zu der unrühmlichen Epoche der deutschen Geschichte eröffnen, vor deren Kulisse der Roman spielt.

Caroline Link hat Judith Kerrs Erinnerungen in ein leinwandtaugliches Seh-erlebnis für die ganze Familie überführt.