© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/19 / 20. Dezember 2019

Kulturpessimismus und das weihnachtliche Erlösungsversprechen
Die Alternative
Johannes Eisleben

In Deutschland hat der Kulturpessimismus eine lange Tradition. Seine intellektuellen Protagonisten finden sich in allen geistigen Lagern von Konservativen wie Oswald Spengler oder Ernst Jünger über Chiliasten rechter und linker Ausprägung wie Heidegger oder Marcuse bis zu hin zu moderaten Westmarxisten wie Theodor Adorno und Jürgen Habermas. Und er lebt – obschon oftmals totgesagt – noch heute! Zu Weihnachten soll hier analysiert werden, wie deutscher Kulturpessimismus aussieht, warum er vollkommen obsolet ist und was dies mit der Geburt Jesu Christi und dem darin zum Ausdruck kommenden Erlösungsversprechen zu tun hat.

Kulturpessimismus bedeutet, die durch Industrialisierung und Moderne aufgeworfenen Probleme in Form einer oftmals zutiefst pessimistischen, manchmal gar apokalyptischen Krisendiagnostik inadäquat zu interpretieren (Arpad Sölter im Heidegger-Jahrbuch 12/2018: „Heideggers Kulturkritische Theorie“). Die gemeinsame Grundhaltung deutscher Kulturkritiker läßt sich durch eine Mißachtung „der Wirklichkeit, intellektuelle Radikalität, die zu extremen Sichtweisen neigt und apokalyptische Tendenzen wie Katastrophenszenarien begünstigt“ sowie eine „Verachtung von Politik beziehungsweise ästhetisches Verhältnis zu ihr“ (Sölter) charakterisieren.

Heideggers Kernbegriff ist die „Seinsvergessenheit“, die zum Ausdruck bringen soll, daß abendländischer Rationalismus und klassische Metaphysik das westliche Denken in eine unauflösbare Aporie geführt haben, aus der es kein

Entrinnen gebe.

So finden wir beim Kulturkritik-Klassiker Martin Heidegger Krisenbewußtsein, Entfremdungsdenken, Kritik an der Verdinglichung, Klagen über die „Machenschaft“ und die „Herrschaft des Man“, eine Abwertung von Demokratie und Menschenrechten und – stilprägend für seine Nachfolger – binäre Antagonismen, vor allem in der Kontrastierung deutscher Kultur mit dem zivilisatorischen „Planetarismus“ der Amerikaner. Bei all diesen Phänomenen hat Heideg­ger den Untergang der europäischen Kultur mit apokalyptischer Gewißheit im Blick. Sein Kernbegriff ist die „Seinsvergessenheit“, die zum Ausdruck bringen soll, daß abendländischer Rationalismus und klassische Metaphysik das westliche Denken in eine unauflösbare Aporie geführt haben, aus der es kein Entrinnen gibt. Darauf kommen wir noch zurück.

Auch bei Habermas, der sich ständig gegen den deutschen kulturellen Sonderweg gewandt und für ein Aufgehen deutschen Denkens im anglo-amerikanisch-internationalen Diskurs ausgesprochen und aus eigener Sicht auch daran gearbeitet hat, läßt sich Kulturpessimismus nachweisen (siehe dazu Arpad Sölter: „Moderne und Kulturkritik“, Bouvier 1996, S. 250–297): Er sieht unser Alltagsbewußtsein als „fragmentiert“ und „seiner Kraft beraubt“ an, für ihn hat wie für Heidegger die Moderne zu einem Zustand „umfassender Entfremdung“ geführt. In seinem Denken wird die positiv besetzte Sphäre der Kultur als durch die rationale, negativ konnotierte Zivilisation bedroht charakterisiert. Diese in der Realität nicht nachvollziehbare, künstliche, dichotome Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation ist für den deutschen Kulturpessimismus typisch.

Doch für Kulturpessimismus gibt es nicht den geringsten Grund. Durch die Industrialisierung hat die Menschheit eine Epochenschwelle überschritten wie zuletzt bei der Seßhaftwerdung im Neolithikum: Wir leben seit Mitte des 18. Jahrhunderts im Zeitalter der Technosphäre, in der wir unsere gesamte Umwelt mit technischen Mitteln auf unsere Bedürfnisse hin gestalten. Im Neolithikum wurde die „Hintergrunds-erfüllung“ (Arnold Gehlen), die selbstverständliche Befriedigung elementarer Bedürfnisse, durch Ackerbau und Viehhaltung gegenüber dem Leben der Nomaden drastisch verbessert. Durch die Industrialisierung wurde sie abermals massiv gesteigert: Sie ermöglichte den Massen sichere Versorgung mit Nahrungsmitteln, sauberem Trinkwasser, Behausung, Bekleidung, Energie, Transport, Logistik, Kommunikation und medizinischer Versorgung – all das und noch vieles andere war im Agrarzeitalter nicht erhältlich oder nur dem Adel vorbehalten. Und für die Produktion all dieser Güter haben wir auf der Erde für Millionen von Jahren genügend Ressourcen, wenn wir das Müllproblem in den Griff bekommen.

Auch wurden im von den Kulturpessimisten gescholtenen Westen zwischen 1830 und 1930 Rechtsstaatlichkeit und demokratische Partizipation zum Normalzustand. Die Hauptnachteile der Modernisierung sind die Infragestellung der aus dem präindustriellen Zeitalter überkommenen Institutionen wie etwa Familie, Glaube, Dorfgemeinschaft und klassische Autoritäten. Daß diese Institutionen ihre alte Stellung verlieren oder ganz verschwunden sind, hat zu Vereinzelung und Anonymisierung und zum Verlust traditioneller Orientierungsmöglichkeiten in der urbanen Massengesellschaft geführt.

Es sind diese Aspekte, die den Kulturpessimismus hervorgebracht haben, doch sind dies letztlich Symptome einer Übergangszeit (Arnold Gehlen, „Die Seele im technischen Zeitalter“, 1957): Der Hunger der Menschen nach Sinn ist so groß, daß sich im Laufe der Gewöhnung an die Epoche der Technosphäre ein neues Gleichgewicht der Sinngebung einstellen wird. Dies entsteht, wenn der notwendige Bewußtseinswandel, der mit einem Epochenwechsel einhergeht, abgeschlossen sein wird. Wir befinden uns mitten in diesem Bewußtseinswandel, der für alle, die die Bedeutung des Epochenumbruchs nicht verstehen, sehr schmerzhaft ist. Dabei ist es ganz normal, daß bei so einem fundamentalen Veränderungsprozeß die kulturellen Inhalte des Vorgängerzeitalters abgewrackt werden – so wie die Jagdgötter der Jäger und Sammler und ihr Totemismus im Neolithikum durch neue Gottheiten der Ackerbauern und schließlich durch den Monotheismus ersetzt wurden.

Obgleich es eine Zeitlang so schien, als sei dieser Sonderweg, der Deutschland kulturell vom anglo-amerikanischen Westen absonderte, verlassen worden und dadurch eine vollständige kulturelle Westintegration erreicht worden, lebt der Kulturpessimismus in Deutschland heute weiter. So betreiben konservative Autoren wie Rolf Peter Sieferle oder Alexander Grau wieder eine tiefe Kulturkritik: „Das emanzipierte, nach autonomer Selbstentfaltung strebende Subjekt ist somit im Kern nicht kulturfähig“, konstatiert beispielsweise Grau (Tumult, Winter 2018), womit er sich im Kern der charakteristischen Kultur-Zivilisationsdichotomie Heideggerscher Prägung befindet.

Auf der anderen Seite des Spektrums gibt es unzählige pseudo-progressive, sich auf Derrida, Foucault oder Judith Butler stützende Autoren, die den destruktiven Charakter unseres Zivilisationsmodells zu erkennen meinen. Wie Heidegger bescheinigen sie ihm katastrophale Folgen für die Menschheit. Alles Übel – Umweltzerstörung, Ausbeutung und Armut auf der Südhalbkugel, Entfremdung, Gewalt, Ungerechtigkeit und Leid – wird in chiliastischer Sehnsucht dem „Patriarchat“, der „Herrschaft des weißen Mannes“ und seinem „phallogozentrischen Rationalismus“, die es allesamt zu überwinden gälte, zugeschrieben.

Wie der gemeinsame Denkvater Heidegger lasten sie und ihre Parteigänger im linken, prärevolutionären Spektrum all dies der Moderne und ihrer angeblichen Zerstörung der Kultur an. Dabei merken sie nicht, daß sie reine Nostalgiker sind, die so denken wie Totemisten angesichts der neuen Götter der Agrarkultur. Subtrahiert man nämlich die Ästhetik und die Kultur-Zivilisations-Dichotomie aus ihrem Denken, bleibt nur das übrig, was wir Christen nüchtern als conditio humana bezeichnen: der Kern unseres Wesens als eines vergemeinschaftungsfähigen, aber allesfressenden und aggressiven Raubtiers, eines Sünders, wie Paulus und Luther unseren Basiszustand nennen.

Im Unterschied zu Heidegger spricht Rudolf Bultmann als Christ nicht von Seins-, sondern von Gottesvergessenheit. Anders als aus der Seinsvergessenheit gibt es aus ihr einen Ausweg, und daran erinnert uns jedes Jahr aufs neue das Weihnachtfest.

Heidegger ging, wie gesagt, in seiner radikalen Neoromantik und Sehnsucht nach der Kultur der Agrargesellschaft gar so weit, als Ergebnis der abendländischen Geistesgeschichte die „Seinsvergessenheit“ zu sehen, aus der es keine Rückkehr mehr in das echte Sein gäbe – außer durch eine neue, irgendwie archaische Metaphysik, die Heidegger stets formulieren wollte, aber nicht konnte, weil es sie gar nicht geben kann! Denn der Begriff der Seinsvergessenheit ist selbst ein notwendiges Produkt der Kulturgeschichte, an der Heidegger mitgeschrieben hat: Ausdruck der Unfähigkeit, sich auf ein neues Kulturparadigma, das der Technosphäre, einzulassen.

Interessanterweise argumentierte Heidegger mit seinem Begriff strukturgleich zu seinem Existentialistenkollegen Rudolf Bultmann. Doch spricht dieser als Christ nicht von Seins-, sondern in der Tradition Luthers von der Gottesvergessenheit. Anders als aus der Seinsvergessenheit gibt es aus ihr einen Ausweg, und daran erinnert uns jedes Jahr aufs neue das Weihnachtfest.

Denn obgleich parallel zur Entstehung der Technosphärenkultur im 18. Jahrhundert Immanuel Kant zeigte, daß Gottesbeweise unmöglich sind, und später Ludwig Feuerbach Gott als Projektion des Menschen und danach Friedrich Nietzsche ihn für tot erklärten, können wir uns dennoch aus der Freiheit unseres Willens für Gott entscheiden: durch die Entscheidung zum Glauben (Bultmann). Diesen Weg bietet uns Gott immer an, wir können ihn jederzeit gehen. In unserer christlichen Tradition, die im Zeitalter der Agrarkultur entstanden ist, aber weit in unser Zeitalter hineinragt, feiern wir das Weihnachtsfest, wodurch wir alle mindestens einmal pro Jahr mit voller Wucht an das Heilsversprechen erinnert werden. Der kindliche Heiland im Stall, über dessen Krippe in vielen klassischen Darstellungen bereits das Kreuz als Symbol seines Opfertodes hängt, ist das großartige Sinnbild dieses Versprechens.

Menschen haben schon immer am Sinn ihres Lebens gezweifelt, der moderne Kulturpessimismus ist nur Ausdruck dieses Zweifels. Doch eigentlich äußert sich darin nur eine anthropologische Konstante, die Gottesvergessenheit, die Verzweiflung am Leben. Mit der Geburt Christi erhalten wir die Verheißung der Überwindung dieser tiefen Verzweiflung, wenn wir uns zum Glauben an den Erlöser entscheiden: Fröhliche Weihnachten!






Johannes Eisleben, Jahrgang 1971, ist Mathematiker und arbeitet als Systeminformatiker. Eisleben publiziert auf dem Portal achgut.com sowie in der Zeitschrift Tumult. Mit seiner Familie lebt er bei München. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über politische Legitimität und die Angst der Deutschen („Repression statt Lösung“, JF 49/19).

Twitterprofil: @j_eisleben

Foto: Gerrit van Honthorst, „Anbetung der Hirten“ (1620): Aus Freiheit können wir uns für Gott entscheiden