© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/19 / 20. Dezember 2019

Rutsch mit Hindernissen
Silvester: Feuerwerks- und Bleigießverbote hinterlassen eine Lücke beim Jahreswechsel
Boris T. Kaiser

The same procedure as every year“, lautete viele Jahrzehnte lang das dem legendären „Dinner for One“-Sketch entlehnte Motto, nach dem Millionen Deutsche Jahr für Jahr ihr Silvesterfest gestalteten. Spätestens seit 2015 hat sich diese Prozedur allerdings immer mehr verändert. Das Abfackeln von Feuerwerkskörpern ist inzwischen, meist angeblich der Umwelt zuliebe, auf vielen öffentlichen Plätzen streng verboten. Auf die Durchsetzung darf man gespannt sein. Dennoch sind diese Orte, vor allem für Frauen, noch immer brandgefährlich. Denn bei vielen der neuen Partygäste hat sich über das Jahr hinweg so einiges angestaut. Frust über Ausgrenzung, Traumata durch Arbeitsangebote und ganz viel verschmähte Liebe. Von denen, die schon länger hier leben und feiern, bleiben nicht wenige deshalb inzwischen in der Silvesternacht lieber gleich ganz zu Hause. Was für die, die sich noch raus trauen zu den Lichtershows und „Partymeilen“ mit strengen Alkoholauflagen, zumindest den Vorteil hat, daß man in der Nacht der Nächte einfacher ein Taxi bekommt. Auch der jährliche Kampf um die besten Raketenpackungen auf den Knallerei-Regalen dürfte so entspannter ablaufen – immerhin bieten die ersten Supermärkte gar keine Böller an.

Nun könnte man annehmen, daß doch wenigstens die Zuhausegebliebenen nach alter Sitte und ungestört den Jahreswechsel begehen können. Aber weit gefehlt. Der Staat heißt inzwischen Europäische Union, und diese macht in ihrer Regulierungswut nicht an der Haustür halt. Ganz im Gegenteil. Hier geht die Gleichmacherei und Erziehung der Untertanen erst richtig los. Was draußen Böller und Raketen sind, ist drinnen das Bleigießen. Dies ist seit vergangenem Silvester nicht mehr erlaubt. Seitdem gilt für Produkte mit Bleigehalt ein neuer Grenzwert. Produkte mit einem Bleigehalt höher als 0,3 Prozent gelten als gefährlich und mußten aus dem Handel genommen werden. Hatten 2018 viele Deuter der erstarrten Figuren noch Bleireste daheim, so schlägt die Verordnung dieses Jahr voll ein. Bleigieß-Sets enthielten laut Stiftung Warentest mindestens 71 Prozent Blei. Davor mußte die EU uns natürlich schützen. Denn, so heißt es von den fürsorglichen Verbraucherschützern: Blei macht dumm, weil es das zentrale Nervensystem und damit die Hirnfunktion schädige. 

Gelegenheit, den familiären Austausch zu stärken

Wer, vielleicht in der Hoffnung auf bessere Zeiten, dennoch einen rituellen Vorausblick auf das kommende Jahr werfen will, dem will der Einzelhandel Wachsgießen als heiße Alternative andrehen, die (noch) erlaubt ist. Die dabei verwendeten Materialien genügen bestimmt voll und ganz den Normen und Sicherheitsanforderungen der Europäischen Union für Kerzen, Kerzenhalter, Kerzenbehälter und Kerzenzubehör. Was dabei herauskommt, sieht allerdings meistens auch so aus, als wäre es in Brüssel entstanden. Und so reiht sich die Diskussion über die Interpretation der gewöhnungsbedürftigen Wachsskulpturen in den Streit mit den Gästen um den CO2-Fußabdruck des kleingeschnittenen Steaks für das Fleischfondue ein. Um einer Eskalation entgegenzuwirken wird die Neujahrsansprache der Kanzlerin lieber abgeschaltet. 

Der Lebenskünstler Dittsche, alias Olli Dittrich, präsentierte in einer Folge seiner WDR-Kultserie einst eine weitere neue Variante der alten Tradition: Eigießen. Der glibberig-klebrige Blick in die Zukunft anhand eines in heißem Wasser verquere Formen annehmenden Eis ist vielleicht nicht jedermanns Sache. Silvester, angesichts der schönen neuen Welt da draußen, einfach gemütlich in vertrauter Umgebung und im Bademantel zu verbringen, dürfte dagegen für viele sehr verlockend klingen. 

Das Umspringen der Jahreszahl im engsten Kreis zu zelebrieren, fern vernebelter Horizonte, enger Straßendrängeleien und überteuerter All-Inclusive-„Partys des Jahres“, kann aber auch die Chance bieten, den familiären Zusammenhalt sowie den Austausch über Wünsche und neue Vorhaben zu stärken.