© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/20 / 03. Januar 2020

„Die Lage ist tatsächlich prekär“
Geschichte der Rentenpolitik: Deutschland steuert auf beispiellose Altersarmutskrise zu
Oliver Busch

Gegen den massiven Widerstand der Banken- und Versicherungswirtschaft sowie des übrigen Arbeitgeberlagers mitsamt seines parlamentarischen Arms, der FDP, führte Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU), ein selbst in hohem Rentenalter stehender Regierungschef, 1957 eine Rentenreform durch, um der westdeutschen „Wirtschaftswunder“-Republik ein stabiles soziales Fundament zu gießen.

Das neue Rentensystem, „das großzügigste der gesamten Welt“ (Hans-Werner Sinn), führte die beitragsfinanzierte Rente ohne Bedürftigkeitsprüfung und Anbindung der Rente an den Lohn ein. Deren Neuberechnung hob die Durchschnittsrente abrupt um 70 Prozent an, so daß sie mit einem Bruttorentenniveau von 60 Prozent den Charakter eines fortgesetzten Lohns annahm. Mit einem Schlag bannte die von der SPD dabei unterstützte Bundesregierung so die akute Gefahr, mit dem überkommenen, einst vom Reichskanzler Bismarck begründeten System auf eine Altersarmutskrise zuzusteuern. Und das zur Hochzeit des Kalten Krieges. 

Ohne diese „sehr populäre Reform“, so beschreibt Tim Köhler-Rama, der an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung über Alterssicherungspolitik doziert, die soziale Dramatik im Jahr 1957, hätte die Mehrzahl der Arbeitnehmer im Alter zwangsläufig zur „Armutspopulation“ gezählt (Politikum, 4/2019, Schwerpunkt Alterssicherung). Das wäre sozialer Sprengstoff gewesen, der zur Hochzeit des Kalten Krieges geeignet war, um die Stabilität der jungen Bonner Republik zu erschüttern, auch wenn der Bevölkerungsanteil der Senioren nicht derart signifikant war wie heute. Zwecks Armutsvermeidung wurde das staatliche Rentensystem daher so konzipiert, daß ein in Vollzeit tätiger Mensch nach vierzig Versicherungsjahren im Alter eine Rente erhielt, die ausreichte, um seinen Lebensstandard zu sichern.

Entwertung der erworbenen Leistungsansprüche  

Gut sechzig Jahre später, im angeblich „besten Deutschland, das es je gab“, sieht Köhler-Rama die Berliner Republik dort angekommen, wo Adenauer am Vorabend seiner Rentenreform stand: zusteuernd auf eine Altersarmutskrise gewaltigen Ausmaßes. Denn Adenauers wichtigste Ziele, Armutsvermeidung und Wahrung der Einkommensposition im Alter, stünden heute zur Disposition. Zum einen wegen der allmählichen Entwertung erworbener Ansprüche infolge der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), zum anderen durch den Abbau sozialer Ausgleichsansprüche im Rentenrecht. „Logische Folge: Das Altersarmutsrisiko steigt seit zehn Jahren deutlich schneller als die allgemeine Armutsquote und ist im Zeitraum zwischen 2007 und 2017 von 14 auf 19,5 Prozent gestiegen.“ 

Die durchschnittliche Zugangsrente bei Männern beträgt aktuell 1.100, bei Frauen 750 Euro. Für immer mehr Deutsche, rechnet Köhler-Rama vor, lägen die Altersrenten kaum noch oberhalb der Grundsicherung, die das Existenzminimum darstellt. In Mitteldeutschland erhalten bereits über 50 Prozent, in Westdeutschland 40 Prozent der seit 2015 aus dem Arbeitsleben Ausgeschiedenen weniger als 1.000 Euro Rente. Solche hohen Anteile von „Armutsrenten“ würden den Grundgedanken der Statussicherung desavouieren, weil sie die relative Entwertung der im Rentensystem erworbenen Leistungsansprüche widerspiegeln. Die 1957 implementierte Idee „Rente als fortgesetzter Lohn“ werde von der Realität Lügen gestraft. Damit schwinde das Vertrauen in den Staat. „Die Lage ist tatsächlich prekär.“

Die Erosion der nationalen Solidargemeinschaft

Zumal auch die beiden anderen Pfeiler des von der rot-grünen Schröder-Regierung 2001 zur Absicherung der gesetzlichen Rente errichteten „Drei-Säulen-Modells“ bröckeln: die betriebliche und die individuelle private Altersvorsorge. Betriebsrenten blieben auf den Kreis der Arbeitnehmer in Konzernen und Großbetrieben beschränkt. Kleine und mittlere Unternehmen hätten sich damit nicht anfreunden können, so daß weiterhin nur knapp die Hälfte aller Beschäftigten auf diese Weise zusätzlich abgesichert ist. „Drastische sinkende Zinsniveaus“, wie Köhler-Rama die EZB-Null- und Minus-Zinsen verniedlichend nennt, hätten die Konstrukteure der Riester-Rente zu Beginn des aberwitzigen Euro-Experiments nicht vorausgesehen. Jedenfalls habe sich die versprochene Lebensstandardsicherung mit dem Drei-Säulen-Modell, an dem auch die Nachfolgerin Gerhard Schröders seit 2005 unbeirrbar festhielt, als „Schimäre“ erwiesen. 

Die Anfänge der heutigen „tatsächlich prekären Lage“ der deutschen Rentenpolitik ließen sich nach Ansicht von Axel Börsch-Supan (Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik, München) in den 1970ern studieren, als Adenauers Wohlfahrtsstaat in höchster Blüte zu stehen schien. Tatsächlich setzte aber, wie der Experte für den Zusammenhang zwischen demographischem Wandel und sozialen Sicherungssystemen ausführt, die Erosion einer seiner wesentlichen Voraussetzungen bereits ein: die der nationalen Solidargemeinschaft. Das Schlagwort „Die Deutschen sterben aus“ machte die Runde und fand seine Bestätigung in der Bevölkerungsstatistik. 1964, auf dem Gipfel des „Babybooms“, erblickten in der Bundesrepublik 1.357.304 Millionen Neubürger das Licht der Welt. 1975, nach dem „Pillenknick“, waren es nur noch 782.310. Die Tendenz ist seitdem weiter fallend. 

Der Lebensstandard ist künftig nicht zu halten  

Damit verschob sich sukzessive die Balance zwischen den Generationen. Immer weniger Jüngere müssen immer mehr Alte finanzieren. Langfristig stabile Leistungszusagen, die ein hohes Rentenniveau garantieren, lassen sich deswegen nicht mehr einhalten. Was während der Kanzlerschaft Helmut Kohls 1992 mit dem Übergang von der Brutto- zur Nettolohnanpassung zur schmerzhaften Korrektur des 1957er-Systems zwang. Mit dem „Drei-Säulen-Modell“ inklusive „Riestertreppe“ folgte 2001 eine weitere Absenkung des bis heute auf 48 Prozent „Nettosicherung vor Steuern“ abgerutschten Rentenniveaus.

In den nächsten fünf Jahren geht das Gros der „Babyboomer“ in den Ruhestand. Eine Million Rentner mehr als zwischen 2014 und 2019 werden erwartet. Von ihnen wird das Gros den im Arbeitsleben erreichten Lebensstandard nicht halten können. Die Maßnahmen, die Angelas Merkels Kabinett in jüngster Zeit ergriffen hat, um diese Altersarmutskrise mit Ansage zumindest einzudämmen, beurteilt Börsch-Supan allesamt als verfehlt oder unzureichend. 

Die 2018 eingeführte „doppelte Haltelinie“, die eine Obergrenze für den Beitragssatz und eine Untergrenze der Rente fixiert, um das Rentenniveau bis 2025 nicht unter 48 Prozent sinken zu lassen, tauge zur Krisenbewältigung so wenig wie die Grundrente, weil Altersarmut nur mit weitsichtiger Arbeitsmarktpolitik zu verhindern sei. Und dabei müßten Reformen sich auf die Bevölkerungsschichten konzentrieren, für die ein lebenslanges Armutsproblem bestehe. Vermeidung von Unterqualifikation sei hier der Schlüssel, um einem reduzierten Leben im Alter vorzubeugen. Angesichts der obergrenzenlosen Aufnahme von inzwischen über zwei Millionen Unterqualifizierten allein seit 2015 gleicht aber auch dieser Reformvorschlag einer „Schimäre“. Selbst wenn die Bundesregierung Börsch-Supan folgte und nur „bleibeberechtigte Migranten integrieren“ würde. 

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