© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/20 / 03. Januar 2020

Mitscherlichs frühe Deutung der „Tätergesellschaft“
Verweigerte moralische Grenzziehung
(wm)

Für Gudrun Brockhaus, geschichtspolitisch engagierte Münchner Psychologin und Begründerin der gleichnamigen Familienstiftung, nahm der sozialwissenschaftliche Klassiker „Die Unfähigkeit zu trauern“ (1967) von Alexander und Margarete Mitscherlich wesentliche Einsichten der jüngeren NS-Forschung vorweg (Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 11/2019). Die beiden Frankfurter Sozialpsychologen, die die „emotionale Bindungskraft“ des Nationalsozialismus an sich selbst erfuhren, hätten zu einer Zeit, als das Deutungsmuster der NS-Diktatur als „Terrorherrschaft“ dominierte, erkannt, in welchem Umfang Opportunismus und nicht Unterdrückung das System funktionieren ließ. Soziale Angst sei der eigentliche Motor oft vorauseilender Unterwerfung gewesen. So hätten die Mitscherlichs bereits klar erfaßt, was Götz Aly viel später „Zustimmungsdiktatur“ (2005) oder Sven Reichardt „Beteiligungsdiktatur“ (2014) tauften. Da Mitscherlichs sich auch weigerten, eine klare moralische Grenze zwischen Tätern und „Mitläufern“ zu ziehen, stecke in ihrer Interpretation der NS-Zeit auch die erst in den 1990ern sich etablierende Rede von der „Tätergesellschaft“, der zufolge 90 Prozent der Deutschen in die NS-Verbrechen involviert gewesen seien – von nachbarschaftlichen „Unmenschlichkeiten“ wie Denunziationen bis zum Massenmord. 


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