© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/20 / 03. Januar 2020

Die ewige Suche nach einer Ordnung
Grenzgänger rechten Denkens, Teil 1: Der Politologe Eric Voegelin zwischen Rassentheorie und Totalitarismuskritik
Wolfram Ender

Der Geschichtsphilosoph und politische Theoretiker Eric Voegelin, dessen weltbekanntes Werk „Die politischen Religionen“ begriffsbildend für die internationale politische Wissenschaft wurde, gehört zu einer Reihe weimarkritischer Autoren, die sich als Zeitgenossen auch kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzten.

Geboren 1901 in Köln als Erich Vögelin, war er von 1929 bis 1938 als Privatdozent und Professor an der Universität Wien und der Wiener Volkshochschule tätig. 1938 von den Nationalsozialisten entlassen, emigrierte er in die USA, wo er bis 1958 an verschiedenen Universitäten lehrte, unter anderem in Harvard. Ab 1958 bis zu seiner Emeritierung 1969 hatte er eine Professur an der Universität München inne. Danach ging Voegelin, der die US-amerikanische Staatsbürgerschaft besaß, als Forscher an der Stanford-Universität in die USA zurück, wo er 1985 in Palo Alto verstarb. 2020 jährt sich sein 35. Todestag, 2021 sein 120. Geburtstag.

Er sieht in der Demokratie „Unfreiheit“ verwirklicht

Voegelin bemühte sich in der Nachkriegszeit, die „neue Wissenschaft der Politik“ zu begründen, die er auf die antiken Klassiker Platon und Aristoteles stützte und vom Positivismus abgrenzte. Ausdruck findet seine Konzeption in seinem monumentalen fünfbändigen Alterswerk „Order and History“ (1956–1987, deutsch zehn Bände ab 2007), in dem er die Weltgeschichte von den Hochkulturen bis zur westlichen Zivilisation der Gegenwart betrachtet.

Von besonderem Interesse sind aber zwei Einzelaspekte in Voegelins Denken, seiner Einschätzung von Demokratie und Nationalismus. Auch das antidemokratische Denken Voegelins, der sich in einem Brief aus dem Jahre 1971 an den Autor dieses Textes nicht zu den konservativen Denkern rechnete, war bereits vor 1933 deutlich zum Ausdruck gekommen. Seine Position ist die des politikfernen, „reinen Wissenschaftlers“. 

In Auseinandersetzung mit Carl Schmitt und Max Weber sieht er in der Demokratie nicht Freiheit, sondern „Unfreiheit“ verwirklicht und hält sie für Deutschland wegen dessen antidemokratischer Sonderentwicklungen nicht für geeignet. Ähnlich wie Friedrich August von Hayek spielt er dabei die von ihm hoch geschätzte amerikanische Verfassung gegen die Französische Revolution von 1789 aus, deren Egalitätsgedanken er ablehnt. 

Voegelins Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach 1933 ging von der Rassentheorie aus, deren geistferne und rein naturwissenschaftliche Begründung und Politisierung er durch das neue Regime als unwissenschaftlich kritisiert. Was ihn aber nicht hindert, in Alfred Rosenbergs „Gesamtwesensidee des nordischen Menschen“ ein „erfreuliches Zeichen“ zu erkennen.Völlige Ablehnung der „Rassenlehre unserer Zeit“ läßt sich dagegen Voegelins zweitem Buch des Jahres 1933 zum Thema entnehmen: Sie sei unchristlich, geistfeindlich, nichts als liberaler und marxistischer Materialismus. 

Dagegen gibt sich Voegelin im folgenden Jahr wieder NS-freundlich, indem er die neue Rassenidee der Nationalsozialisten als „tragende Idee des deutschen Volksaufbaus“ lobt und ihren Erfolg auf den antiwestlich-antiliberalen Sonderweg Deutschlands zurückführt. Doch wurde Voegelins Annäherungsversuch von Seiten der NS-Machthaber zurückgewiesen, und auch von katholischer Seite kam Kritik. Mit seiner Studie über den „autoritären Staat“ Österrreichs aus dem Jahr 1936 kehrte Voegelin sich wohl endgültig vom Nationalsozialismus ab, indem er italienischen Faschismus und Nationalsozialismus als totale Bewegungen beschreibt. Noch deutlicher wird er in einem folgenden Aufsatz, in dem er den Nationalsozialismus zusammen mit dem Bolschewismus und Liberalismus als Abkömmlinge des geistfeindlichen Materialismus und Positivismus gleichsetzt. 

Voegelins theoretisches Hauptwerk über die „politischen Religionen“ erschien 1938 in Wien, 1939 in Stockholm. Dieser Begriff kann in modifizierter Form als Schlüsselbegriff für eine moderne, differenzierende Totalitarismus-Theorie gelten, die damit die neuartigen, auf eine Verdrängung des Christentums abzielenden und mit Absolutheitsanspruch auftretenden politischen Weltanschauungen des Faschismus und Bolschewismus bezeichnen will, dabei aber im Gegensatz zu Voegelin und zu den Vertretern der traditionellen, identifizierenden Totalitarismus-Theorie auf die ganz andersartigen Zielsetzungen und geschichtlichen Voraussetzungen von Faschismus und Bolschewismus ausdrücklich Wert legt. 

Voegelin sieht sich genötigt, den Vorwurf zurückzuweisen, er „werbe“ für den Nationalsozialismus, beharrt aber zugleich darauf, diesen als „nicht schlechthin ein sittlich Negatives“ und als eine „sehr anziehende Kraft“ zu zeigen. Voegelin unterscheidet „überweltliche“ und „innerweltliche“ Religionen und geht historisch weit ausholend ihren Erscheinungsformen seit den Pharaonen nach. Demgemäß erscheint der Nationalsozialismus gewissermaßen als normale Ausformung einer schon immer dagewesenen historischen Problematik. Von seinem politisch-sozialen Eigencharakter als neuartige mittelständische Massenbewegung bleibt nichts übrig. Es geht Voegelin vornehmlich um einen „religiösen“ Kampf, folglich sieht er die „antichristlichen religiösen Bewegungen“ des NS-Systems, des Faschismus und des Marxismus in der Kontinuität der Säkularisierung und ihrer „Humanitätsidee“. Den eigentlichen Staat ohne Gott läßt er mit Hobbes beginnen, und wenn er auf Kant, Comte, Fichte, Gobineau, Marx als Vorläufer verweist, fragt er nicht nach ihrem politischen Denken, sondern nach ihrer Stellung zum christlichen Gott. 

Im Gegensatz zu Arendts Totalitarismustheorie

Immer wieder betont er, daß es nicht auf die wandelbaren Inhalte ankomme, sondern auf die gleichen Formen der Beziehung zwischen Politik und Religion; und so bringt er Nationalsozialismus und Faschismus auf den Begriff der „zwei radikal innerweltlichen Ekklesiae“, die die mittelalterliche christliche Reichsidee in verweltlichter Form übernommen hätten. Richtig an Voegelins Konzeption ist sicher der scharfe Blick dafür, daß nicht nur das rechte Denken, sondern auch die modernen Denkrichtungen der Aufklärung in irrationale Glaubenshaltung führen können. Doch rechtfertigt diese Tatsache nicht die Gleichsetzung des modernen Denkens mit dem Nationalsozialismus, der nur aus einer antiaufklärerischen Tradition herzuleiten ist. 

Voegelins bis 1945 in Amerika publizierte Aufsätze bieten keine neuen Aspekte. In ihnen geht es ihm vor allem um die Rechtfertigung und Erklärung der aus seiner verspäteten Nationwerdung und aus seiner mangelnden Demokratisierung resultierenden politischen Sonderentwicklung Deutschlands. 

Nach 1945 hat Voegelin seine Position grundsätzlich beibehalten und mit zwei neuen Begriffen, „Szientismus“ und „Gnosis“, den Verweltlichungsprozeß seit dem Altertum beschrieben, der zu Marxismus, Nationalsozialismus geführt habe. Weiterhin sieht er den Totalitarismus und den Liberalismus als wesensmäßig verwandt an, auch wenn er an anderer Stelle ein klares Bekenntnis zur modernen westlichen Demokratie als „Zivilregime“ abgelegt hat. 

Es verwundert deshalb nicht, daß Voegelin mit der Politologin Hannah Arendt, die er als liberale Gegnerin ansah, in eine Kontroverse geriet, weil diese jegliche Gemeinsamkeiten zwischen Totalitären und Liberalen kategorisch bestritt.