© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/20 / 10. Januar 2020

„Was bitte ist daran wissenschaftlich?“
Der US-Politologe Bruce Gilley hat die deutsche Kolonialgeschichte untersucht – und traute seinen Augen nicht. Als er aufzeigte, daß die Fakten deren üblicher Darstellung widersprächen, geriet sein Artikel zum Skandal. Nun hat er in Deutschland erneut Protest ausgelöst
Moritz Schwarz

Herr Professor Gilley, wie erklären Sie sich die scharfen Reaktionen auf Ihren Artikel „The Case for Colonialism“ (Argumente für den Kolonialismus)?

Bruce Gilley: Offensichtlich habe ich damit eine heilige Kuh,nicht nur der Kolonialhistoriker, sondern der politischen Linken geschlachtet. 

Was konkret meint „heilige Kuh“? 

Gilley: Inzwischen ist beim Thema Kolonialismus sozusagen nur noch eine Betrachtungsweise „erlaubt“: Die, daß er bösartig und niederträchtig war.

Und das war er nicht? 

Gilley: Das sage ich gar nicht. Ich sage, daß damit eine Art Monokultur existiert. Und das ist mit einem wissenschaftlichen Anspruch, akademische Freiheit und intellektuelle Vielfalt, unvereinbar.

Ihr Aufsatz ist 2017 erschienen – warum die Aufregung jetzt, zwei Jahre später?

Gilley: Wohl wegen der Einladung der zwei AfD-Bundestagsabgeordneten Petr Bystron und Markus Frohnmaier, die mich für Dezember um einen Vortrag in ihren Fraktionsräumen gebeten hatten.

Warum sind Sie der Einladung gefolgt? 

Gilley: Warum nicht? Gerne würde ich auch der anderer Fraktionen folgen!

Hatten Sie mit solchen Reaktionen auf Ihren Aufsatz gerechnet? 

Gilley: Sie meinen die nun in Deutschland oder die von 2017? Nun, zunächst nicht, denn ich hatte bereits 2016 einen Artikel über den nigerianischen Autor Chinua Achebe publiziert – der 1958 den Roman „Okonkwo oder Das Alte stürzt“ geschrieben hatte, der ihn für die Öffentlichkeit zu einem „Gott“ des Antikolonialismus machte. Doch liest man, was Achebe sonst schrieb, merkt man, daß das gar nicht seiner Meinung entsprach. Tatsächlich dachte er über viele Aspekten des Kolonialismus positiv! Und so verfaßte ich einen Artikel darüber: „Chinua Achebe on the positive legacies of Colonialism“ (C. A. über das positive Erbe des Kolonialismus) Und erwartete einen heftigen Proteststurm. Doch es passierte – nichts! 

Warum nicht? 

Gilley: Inzwischen weiß ich: Mich schützte, daß ich darin nur sagte, was Achebe sagte – der Artikel bestand ja aus seinen Worten. Doch das ließ mich 2017 die Situation unterschätzen. Nun kam der Sturm, denn diesmal waren es meine Worte. Eine Stunde nach der Veröffentlichung auf der Onlineseite der renommierten Fachzeitschrift Third World Quarterly meldete sich ein australischer Kollege: Sein Postfach quelle über von Haß-Mails gegen mich! Warum? Weil wir auf Facebook Freunde sind! Da schaute ich auch in mein Fach ... 

Der Historiker Jürgen Zimmerer legt in einem „Welt“-Interview nahe, Sie seien kein seriöser Wissenschaftler – denn „TWQ“ habe Ihren Artikel schließlich zurückgezogen. 

Gilley: Im Englischen wird zwischen zurückziehen und widerrufen unterschieden: Für das eine gibt es das Verb „to withdraw“ – wenn man ohne fachlichen Grund einen Text zurückzieht, inhaltlich also nichts zurücknimmt. Das andere Verb ist „to retract“ – wenn Fehler vorliegen, der Text wissenschaftlichen Ansprüchen nicht standhält und also in der Sache widerrufen wird. Was Professor Zimmerer und die Welt ihren Lesern nicht verraten ist, daß mein Artikel nicht „retracted“, sondern nur „withdrawn“ wurde.

Warum, wenn demnach inhaltlich nichts zu beanstanden war?

Gilley: Weil, was Zimmerer und Welt ebenfalls nicht verraten, die Herausgeber von TWQ Morddrohungen erhielten – vor allem von indischen Nationalisten. 

Was haben die mit einem US-Artikel über deutschen Kolonialismus zu tun?

Gilley: Der Herausgeber ist ein Brite aus Pakistan – das bekanntlich deren Erzfeind ist. Und in ihrer verqueren Logik vermuteten sie hinter der Veröffentlichung meines Artikels einen versteckten Angriff auf ihr nationalistisches Programm, Motto: Indien stünde besser noch unter kolonialer, britischer Knute.Sitz der Redaktion ist London, wo es viele Inder gibt. Und wir wußten nicht, ob die Drohungen per Internet nicht von Leuten um die Ecke kamen. So habe ich zugestimmt, den Text von der Seite zu nehmen. Und so wurde er auch, entgegen der Planung, nicht in die Printausgabe aufgenommen. Es waren übrigens nicht nur indische Nationalisten, Protest kam auch von Moslems und anderen ehemals kolonisierten Volksgruppen.  

Kein Wort davon in den deutschen Medien, dort wird der Protest so dargestellt, als käme seine voller Breite aus der Wissenschaftswelt – und vielleicht von universitären sogenannten „Social Justice Warriors“ (Kämpfer für soziale Gerechtigkeit). 

Gilley: Nun, die kamen dann auch – die Inder waren lediglich die ersten und rabiatesten. Doch auch bei den Social Justice Warriors muß man aufpassen. Deren Aktivisten drohen etwa mit „Hausbesuch“, Motto: Laßt uns seine Wohnung ausrauben, wie der Kolonialismus die Dritte Welt! Soll er erleben, wie sich das anfühlt! Schließlich hatten 18.000 Leute eine Petition gegen mich unterschrieben. Und die Londoner Polizei warnte uns, sie könne keinerlei Garantie geben: Da die Proteste von allen Seiten kämen, vermöge sie nicht eventuelle Konsequenzen abzuschätzen. 

Entscheidend für das Argument, Sie stünden wissenschaftlich allein auf weiter Flur, ist allerdings nur die Reaktion der Fachwelt. Die „FAZ“ wirft Ihnen vor, Ihr Artikel werde von dieser verlacht. 

Gilley: Richtig ist, daß etwa der halbe Herausgeberkreis von TWQ aus Protest gegen mich zurücktrat. Aber ebenso, daß ich meine Reputation nicht im geringsten als beschädigt erlebe. Allerdings, wenn mir gewisse Leute, und dazu gehört auch Professor Zimmerer, attestieren, ich sei für sie wissenschaftlich nicht ernstzunehmen, ist das für mich so, als würde mir Micky Maus sagen, daß man mich in Entenhausen nicht ernst nimmt. Denn natürlich denkt man in der bizarren Welt derer, die in der Wissenschaft das Dogma einer historischen westlichen Schuld installieren wollen, so über mich. Aber mich kümmert deren „intellektuelles“ Disneyland auch gar nicht. Ist es nicht sogar eine Auszeichnung, dort abgelehnt zu werden? Diese Leute erheben erst eine Prämisse zu einer „Wahrheit“ und halten es für Wissenschaft, diese dann mit allen Mitteln zu „belegen“. Aber das ist nicht Wissenschaft! Wissenschaft ist, erst zu beobachten und dann zu schlußfolgern. Doch wenn Sie das Leuten wie Professor Zimmerer erzählen, schlafen die vor Ihren Augen ein. Denn die interessieren sich gar nicht für wirkliche Wissenschaft! 

Ist es nicht verwegen, wenn Sie quasi behaupten, alle irrten außer Ihnen?

Gilley: Abgesehen davon, daß das nicht zutrifft, denn ich habe auch viel Unterstützung von Kollegen bekommen: Nein, im Gegenteil! Ich bin Sozialwissenschaftler und kein Historiker, erst recht kein Kolonialhistoriker. Und wissen Sie was, ich betrachte gerade das als besondere Qualifikation, um zum Kolonialismus zu arbeiten. Warum? Weil das meiste, was Kolonialhistoriker publizieren, nicht einmal den Mindeststandards sozialwissenschaftlicher Arbeit genügt, vielmehr ideologisch voreingenommen ist! Bitte lesen Sie mal das Welt-Interview mit Zimmerer: Wie reagiert er, wenn er mit meinen Ergebnissen konfrontiert wird – mit Gegenargumenten? Nein! Er erklärt meine Resultate kurzerhand zu einer Art Rassismus, zur Folge eines „eurozentrischen Fortschrittsglaubens ... der selbst die Grundlage der Kolonial­ideologien bildete“. Und als sei so ein Verhalten bar jeder Sachlichkeit nicht schon maximal unwissenschaftlich – was schlägt er obendrein statt dessen als „wissenschaftliche“ Methode vor: „Fragen (wir) doch mal Herero und Nama!“ Also hören wir einfach den Vertretern der ehemaligen Kolonialvölker zu. Was bitte ist daran wissenschaftlich? Würden Sie eine Geschichte über den Aufstieg Donald Trumps für wissenschaftlich halten, für die der Autor diesem einfach nur zugehört hat? Zudem, wer sind denn diese Vertreter? Oft Funktionäre, Leute der Elite, mit Limousine und einem Anwesen in Paris oder London – aber sie beanspruchen, „authentische Opfer“ zu sein. Oder es sind – Pardon! – aktivistische Clowns, wie die „Vertreter“ der Herero in Berlin. Verstehen Sie jetzt, warum ich von „Disneyland“ spreche?      

Sie haben gesagt, hätten Sie „The Case for Colonialism“ nicht geschrieben, hätte es ein anderer getan. Was meinen Sie damit? 

Gilley: Daß die historischen Tatsachen offen auf der Hand liegen. Und genau das ist auch der Grund, warum der Artikel solche Wut hervorgerufen hat: Er bedeutet, gerade weil er sich historisch gut belegen läßt, eine existentielle Bedrohung für das herrschende Paradigma. Dazu muß man verstehen, daß „Dekolonialisierung“ zu einer Art Metatheorie – nicht nur der Geschichts-, sondern der Sozialwissenschaften überhaupt – geworden ist. Tatsächlich wird damit nämlich, im Sinne des Dogmas einer historischen westlichen Schuld, gemeint, daß wir uns von all diesen historisch bösen westlichen Vorstellungen und Merkmalen „säubern“ sollten. Und das ist eigentlich die wahre heilige Kuh, an der ich mich vergangen habe. Denn auf dieser Vorstellung einer westlichen historischen Schuld ruhen nicht nur Konzepte und Einflußstellung vieler Sozialwissenschaftler und Social-Justice-Warrior-Initiativen an den Unis, sondern auch politischer Parteien und ihre Entwicklungs- und Außenpolitik. Würde die Forschung aber klarmachen, daß es für eine historische westliche Schuld keine wissenschaftliche Grundlage gibt, würde das ihren Politiken, inklusive vieler Initiativen für die Dritte Welt, für Klimagerechtigkeit, für sogenannten fairen Welthandel etc. die Basis entziehen. Denken Sie also nicht, es ginge tatsächlich nur um deutschen Kolonialismus.

In „The Case for Colonialism“, ebenso wie in Ihrem Vortrag im Dezember in Berlin, haben Sie der Darstellung widersprochen, dieser sei reine Ausbeutung gewesen und Sie stellen gar die These auf, er habe den Kolonialvölkern genutzt.

Gilley: Ja, für einige der davon betroffenen Länder stellt die deutsche Kolonialzeit sogar die einzige positive Periode ihrer Geschichte dar – denn sowohl davor wie auch danach herrschten in diesen Gebieten furchtbare Zustände. 

Zum Beispiel? 

Gilley: Haben Sie sich einmal gefragt, warum Sie meist von Deutsch-Südwestafrika und den Herero und Nama hören, kaum aber von den anderen deutschen Kolonien? Weil in diesen der deutsche Kolonialismus sehr erfolgreich war – also uninteressant für jene ist, die nur über Schuld sprechen möchten. So schrieb Martin Ganisya, ein befreiter Sklave, der es zum Lehrer brachte, 1907 über die Pax Germanica in Deutsch-Ostafrika, zuvor habe dort „fortgesetztes Unrecht (geherrscht). Jetzt herrscht Frieden allenthalben“. Überhaupt läuteten die folgenden Reformen dort eine Ära des Fortschritts ein, die in der Kolonialgeschichte Afrikas ihresgleichen sucht! Und 1914 verabschiedete der Reichstag in Berlin eine Kolonialresolution, die Arbeitnehmerrechte für Eingeborene, Ende der Zwangsarbeit und allgemeine Schulpflicht festschrieb. Der US-Historiker Woodruff Smith bezeichnete diese 1978 als „die umfassendste Erklärung durch eine Kolonialmacht seiner selbst­auferlegten Verantwortung gegenüber den Kolonialvölkern und der Begrenzung der Ausübung der Kolonialmacht“. 

Aber steht dem nicht auch Leid und Ausbeutung gegenüber?

Gilley: Ich will nichts beschönigen. Aber was sagt es etwa aus, daß viele Eingeborene zu den Kolonialstützpunkten hinzogen – statt möglichst weit von ihnen weg? Wären es Orte von Leid und Ausbeutung gewesen, wäre dieses Verhalten nicht zu erklären. Aber offenbar war das Gegenteil der Fall. Natürlich gab es auch dunkle Kapitel. Etwa der brutale Vernichtungsfeldzug deutscher Kolonialtruppen gegen Herero und Nama – den ich zwar nicht für Völkermord, aber für ein Kriegsverbrechen halte. Allerdings verursacht allein durch General Lothar von Trotha. Der danach aber abberufen wurde und in Ungnade fiel. Übrigens war das Land, bevor es 1884 deutsche Kolonie wurde, anarchisch und brutal. Vor allem der Konflikt zwischen Herero und Nama drohte ständig zu eskalieren. So massakrierten die Nama 1850 an einem einzigen Tag circa ein Fünftel der Hereros. Aber auch die dunklen Kapitel ändern nichts daran, daß die deutsche Herrschaft für viele Afrikaner attraktiv war und etliche sie einem Abzug der Deutschen vorzogen. Etwa die Kameruner, die wußten, daß ihnen dann die Eroberung durch die Fulani drohte, ein islamisches Sklavenreich, das seine Nachbarn plünderte und ermordete. Oder zum Beispiel genossen die Deutschen während des großen Maji-Maji-Aufstands in Deutsch-Ostafrika, 1905 bis 1907, breite Unterstützung unter den Einheimischen. Ebenso im Ersten Weltkrieg – obwohl die Deutschen, durch die Alliierten abgeschnitten, ihren afrikanischen Soldaten oft keinen Sold zahlen konnten. Mir geht es natürlich nicht darum, ein Bild purer Harmonie zu zeichnen, sondern darum, jede Art ideologischer Betrachtung des Kolonialismus endlich durch eine wissenschaftliche zu ersetzen.     






Prof. Dr. Bruce Gilley, der Kanadier, Jahrgang 1966, studierte Politologie und Ökonomie u.a. in Princeton und Oxford. Er lehrt an der Staatsuniversität von Portland/Oregon, publiziert in diversen Zeitschriften, ist Träger etlicher Preise und Mitherausgeber des Journal of Democracy. 

Foto: „Deutsch-Südwestafrika“ – Bau Bahnlinie Swakopmund-Windhoek (1897), Gouverneur Theodor Leutwein mit Herero-Führern (1896), Schädel getöteter Hereros werden zum Versand nach Berlin verstaut (1906): „Was Kolonialhistoriker publizieren, genügt meist nicht einmal den wissenschaftlichen Mindeststandards, sondern ist ideologisch voreingenommen“

weitere Interview-Partner der JF